top of page

Garantiert albtraumfrei

  • Writer: Stefan J. Rümmele
    Stefan J. Rümmele
  • Jul 6
  • 4 min read

Illustration: ChatGPT
Illustration: ChatGPT

Ersie hatte keine allzu konkrete Vorstellung davon, was ihn erwarten würde. Doch was er nun allmählich um sich herum wahrnahm, war etwas gänzlich anderes, als er es sich je vorgestellt hatte. Er – oder das, was von ihm übrig war – befand sich in einer vollkommen vertrauten Umgebung: sein Haus, sein Garten, sein Arbeitszimmer, Küche, Wohnzimmer, Bad und Schlafzimmer – alles wie zuletzt. Selbst seine Birkenstock-Schlappen standen noch in der Ecke, wo er sie abgestellt hatte, bevor er zu Bett gegangen war.

Gleichzeitig war all das, was er gekannt und bewohnt hatte, auf ungeheure Weise verwandelt. Es schien aus Luft zu bestehen – oder aus einer gasförmigen, glasartigen Substanz: blau, weiß, grau getönt, fast durchsichtig. Und doch ungreifbar wie opakes Licht. Ersie spürte, dass auch er:sie:es ganz aus dieser Substanz bestand, aus etwas, das dem Nichts sehr nahekam. Und doch beunruhigte ihn dieser Befund nicht.

Überhaupt schien alles um ihn herum friedlich und geordnet abzulaufen. Die Menschen, die früher mit ihm gelebt hatten, gingen in würdevoller Ruhe ihren Verrichtungen nach. Er konnte durch sie hindurchgehen, ihnen zusehen, ohne dass sie Notiz davon nahmen. Auch fremde, jüngere Gestalten belebten den Raum – stumme, leuchtarme Wesen, die sich leicht verlangsamt bewegten. Sie sprachen nicht miteinander. Und sie sahen auch Ersie nicht, als wäre er Luft. Und das war er offenbar auch. Sonst hätten sie seine armfuchtelnden Bemühungen um Kontaktaufnahme doch bemerken müssen?

Ersie war gleichermaßen Sieres und umgekehrt – das dämmerte ihm allmählich. ♀ ♂ oder ⚥ waren obsolet geworden. Auch Raum, Zeit, Herkunft, Glaube – all das hatte keine Bedeutung mehr. Er brauchte eine ganze Weile, bis all dies in sein rudimentäres Bewusstsein gedrungen war.

Mit einer Sache aber hatte Sieres sich geirrt: dem Raum. Immer wenn sie das Haus verlassen wollte – egal ob durch Hinter-, Vorder- oder Seitenausgang – fand sie sich sogleich in einem der Zimmer wieder. Gab es dabei ein System? Vorderausgang → Arbeitszimmer? Hinterausgang → Schlafzimmer? Vielleicht. Doch für sie war es nicht durchschaubar. Noch hoffte Sieres, dass sie den richtigen Ausgang einfach nur übersehen hatte – eine Tapetentür, ein Falltor, vielleicht eine Wandfläche, die sich bei Berührung öffnete.

Also machte es sich Ersie zunächst im Haus bequem. Viel anderes blieb ihm nicht übrig. Das Haus war groß genug und bot allen reichlich Platz. Auch musste er seinen Mitbewohnern keinen Raum überlassen. Alle existierten in- und durcheinander. Tausende hätten allein im Abstellraum Platz gefunden.

Ersie begann nachzudenken. Wie viele Menschen mochte es seit Anbeginn gegeben haben, neben den acht Milliarden seiner Zeit? Eine Zahl mit unendlich vielen Nullen. Doch er korrigierte sich. Oder besser: ein Gedanke fiel ihm zu. Die Bevölkerungsexplosion war ein Phänomen des Anthropozäns! Eine ungerufene innere Stimme ohne Widerhall flüsterte ihm diese Erkenntnis zu. Und auch das entspricht nicht ganz der Wirklichkeit, denn, strenggenommen war ihm dieser Gedanke ohne intensiveres Nachdenken einfach zugefallen, geschenkt worden.

Bei all dieser geistigen Selbstgewissheit quälte Ersie eine Frage, für die er keine Antwort fand, wie sehr er sein Hirn auch zermarterte:

War sein Dasein endlich? Ferngesteuert? Finalisiert? Oder offen? Unbestimmt? Am Ende sogar e w i g?
 

Noch hielt Sieres an einer vagen Erinnerung fest: dass das irdische Leben endlich – und durch den Tod erst erträglich – gewesen war. Doch auch diese Erinnerung schwand. Bald wusste sie nichts mehr von einem Vorher.

Was, wenn sie nun in einem Zustand der ewigen Verdammnis gelandet war? Auf diese vier Wände zurückgeworfen? Für alle Zeiten? Zeiten, die es freilich nicht mehr gab. Vielleicht nie gegeben hatte.

Sie nahm sich vor, ihr Dasein akribisch zu untersuchen. Haarklein. Systematisch. Sofern das überhaupt möglich war.

Eines Tages bemerkte sie, dass sich die anderen Wesen um sie herum doch verständigen konnten – mittels eines unbekannten Codes. Nun galt es, diesen zu entschlüsseln. Welch ein Festtag, als sie erste vokabelähnliche Fragmente mit ihnen austauschen konnte.

Umso niederschmetternder war es Äonen später, als sie erkannte: Auch die anderen wussten nichts. Weder vom Davor, noch vom Warum. Kurz blitzte die Erinnerung in ihr auf, dass genau dies früher nicht anders gewesen war. Und sie beschloss, solche Fragen auf ewig zu vergessen.

Auch das war kein Akt expliziter Anstrengung. Es fiel ihr zu wie ein reifer Apfel. Den Regeln der Schwerkraft folgend.

Trotz aller Zweifel, die ihr Denken zermarterten, trotz aller Fragen, die sie nicht abzuschütteln verstand – vielleicht auch nicht loswerden wollte – erkannte Sieres irgendwann, dass nichts und niemand je von ihr gefordert hatte, diese Welt zu verstehen.

Vielleicht war gerade das die Bedingung für ihr Weiterexistieren: kein Ziel, kein Ausgang, kein Maßstab mehr – nur das stille Pulsieren eines Daseins, das sich selbst genug war.

So hörte Ersie schließlich auf, nach der Tür zu suchen. Nicht aus Resignation. Sondern weil er begriff, dass es nie eine Tür gegeben hatte. Und dass auch niemand ihn je eingeschlossen hatte.

Mit der Zeit wurde das Haus weit und licht, auch wenn seine Mauern dieselben blieben. Die Bewegungen der anderen schienen nun weniger geisterhaft. Manchmal glaubte er sogar, in ihrem Gesichtsausdruck ein Lächeln zu erkennen – oder einen Schatten davon.

Und so sehr vieles auch in der Schwebe blieb – wir müssen uns Ersie als ein zufriedenes Wesen vorstellen. Vielleicht sogar als ein glückliches.


Comentarios


bottom of page