Verführung zum Unglücklichsein
- Stefan J. Rümmele
- Mar 8
- 48 min read
Tür und Tor will diese kleine Geschichte alle jenen öffnen, die sich verzweifelt nach etwas sehnen, das vielleicht mit der Antipode des Glücks zu umschreiben wäre, gäbe es für deren Hermeneutik nicht Hindernisse und Fallstricke en masse.

Verführung zum Unglücklichsein
Kapitelübersicht
Sei Dir auch mal untreu
Sich regen bringt Segen, sich messen Malaisen
Reisen bildet, Nicht-Reisen nicht
Wellness ist Teufelszeug
Antizipieren geht über Studieren
Nehmen ist seliger denn Geben (aber nur mit der richtigen „moralischen Ausstattung“)
Wer sich selbst verletzt, ist klar im Vorteil
Hypochondrie – ein weites, aber dankbares Feld
Zum Glück gibt es (da noch) die gelernte Angst
Der Mitmensch, dein ein und alles
Trau, schau, wem - oder: Drum prüfe, wer sich ewig bindet
Zum Schluss, die schlechte Nachricht
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0) Einleitung
Zweifellos ist das legendäre Werk von Paul Watzlawick „Anleitung zum Unglücklichsein“ bis heute schlechterdings unerreicht. Darüber dürfte bei allen noch so uneinigen Freunden des Unglücklichseins Konsens herrschen. Doch selbst ein großes Oeuvre muss bisweilen einer Revision unterzogen werden. Zum Beispiel dann, wenn sich außergewöhnliche Dinge wie die heutige Finanzkrise ereignen: Es könnte sonst nämlich durchaus sein, dass Menschen unglücklich sind, ohne es zu wissen.
Außerdem sind die Süffisanz und der Esprit Watzlawickscher Gedanken dem Durchschnittskonsumenten von Dschungelcamp und BigBrother heute nur schwer vermittelbar. Das heißt, Watzlawicks einzigartiges Anliegen muss umgeschrieben oder doch zumindest in eine zeitgemäßere Form übersetzt, vielleicht nach unten transformiert werden, damit zuverlässig auch weiterhin große Volksteile daran teilhaben können. Unglück darf keinesfalls das Privileg einer kleinen elitären „Kaste“ bleiben.
Im Übrigen hat die Glücksliteratur, was immer das sein mag, in den vergangenen Jahren in geradezu beängstigendem Ausmaß zugenommen. Mancher Spaßvogel bestreitet damit sein komplettes kabarettistisches Jahresprogramm, andere füllen damit Selbstfindungs-Wochenendseminare, wieder andere pseudophilosophische Werke. Gar nicht zu reden von der Schwemme an Ratgeber- und Tu dies/Tu jenes-Büchern, die wie Krebszellen aus den Verlagskatalogen wuchern. Damit muss ein für allemal Schluss sein!
Deshalb haben wir für den Einstieg möglichst einfache, nachvollziehbare Beispiele gewählt, die das Hineinkommen ins Werk erleichtern mögen, bedienen uns aber wie im Schulaufsatz des steigernden Aufbaus, so dass gegen Ende des Buches durchaus auch die Könner auf ihre Kosten kommen. (Bei Nicht-Erfüllung kommt dann immerhin der bittere Enttäuschungs-Effekt zum Tragen).
Viel Spaß am Unglücklich-Werden und hoffentlich dauerhaft und nachhaltig Unglücklich-Bleiben.
I) Sei Dir auch mal untreu
Wenn du einen verhungernden Hund aufliest und machst ihn satt, dann wird er dich nicht beißen. Das ist der Grundunterschied zwischen Hund und Mensch.
Mark Twain
Watzlawick empfiehlt in seinem Buch: Vor allem eins: Dir selbst sei treu … Dieser Ratschlag hat selbstverständlich seine unwiderleglichen Reize und führt garantiert und ohne Umschweife zum Ziel. Man kann allerdings – und das ist das wirklich Schöne an den Wegen zum Unglücklichsein – man kann auch den genau umgekehrten Weg wählen und sich selbst untreu werden, ohne dabei das sichere Terrain des Unglücks verlassen zu müssen. Einige Beispiele:
Dass Kleider Leute machen, weiß man spätestens seit Gottfried Keller, das war Ende des 19. Jahrhunderts. Dieses todsichere Rezept funktioniert wahrscheinlich solange es Menschen gibt.
Angenommen, Sie sind sehr sicher in der Wahl und Kombination ihrer Kleidungsstücke. Sie tragen stets das passende Kostüm zum passenden Anlass, wollen nie durch übertriebenen Chic oder teure Accessoires auffallen, heben den kleinen Vormittagsempfang des lokalen Avantgarde-Helden gleichwohl stets durch ein pfiffiges Detail über Provinzniveau – sei es ein frischfarbenes Halstuch, ein modischer Gürtel oder ein apart duftendes Parfum. Es genügt, wenn Sie beispielsweise zur nächsten Soiree in einer braungrauen Schlabberhose, ausgewaschenem rosa Träger-T-Shirt und billigem Make-up erscheinen, um die Kleinstadt-Casanovas zum Kichern und Tuscheln hinter vorgehaltener Hand zu bringen. Wenn Sie diesen Vorgang noch zwei-, dreimal wiederholen, wird man bald an ihrem Geisteszustand zweifeln. Abwechselnd sollten Sie aber durchaus zu ihrem alten Chic zurückkehren, damit sich die Angelegenheit im Kontrastprogramm beschleunigt.
Zugegeben, öffentliche Auftritte sind nicht jedermanns Sache, und die Angelegenheit erfordert einige Zivilcourage. Es gibt aber zum Einstieg auch leichtere Übungen, die Sie vielleicht bevorzugen. Jemand der als Quasselstrippe oder Labertasche bekannt ist, braucht eigentlich nur zu schweigen, um aufzufallen und sich zum Gespött der Mitmenschen zu machen. Schweigt er/sie beharrlich weiter, wird man ihn bald meiden wie ein Bakterienflaggschiff, das unter der Flagge EHEC fährt.
Sie werden vielleicht sagen, dass diese Beispiele plump und weltfremd sind. Vielleicht! Andererseits: Allzu häufig übertrifft der schiere Alltag, die scheinbar abwegigsten Phantasien.
Um sich selbst im Weg zu stehen, eignen sich vor allem die eigenen vier Wände glänzend. Das heißt, unzählige Unglücklichkeitsregeln funktionieren vorzüglich im stillen Kämmerlein. Wer publicity- und menschenscheu ist, wird deshalb eher diese Variante wählen, zumal ein gewisser öffentlicher Druck und der Aktionismus unserer Politiker eine beinahe bedauernswerte Randgruppe im Abendland haben entstehen lassen: die Raucher, die sich zwangsläufig in die Enge ihrer Siebenzimmerwohnung zurückgeworfen sehen, wie es sich der Existenzialismus der 50er Jahre nicht verhängnisvoller hätte ausmalen können. Viele Raucher rauchen trotzdem und vor allem: Sie rauchen gern! Damit allerdings unterschreiben sie einen Wechsel auf die Zukunft, denn Leiden, Ungemach, Krankheit und Siechtum stellen sich frühestens nach Jahren oder Jahrzehnten ein, vielleicht nie(!), wie man an Originalen wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt erkennt. Schneller kommt man daher als Raucher ans Ziel, wenn man sich den geliebten Glimmstängel, regelmäßig (mein Husten nervt!) oder zeitweilig verbietet (ich hör jetzt wirklich auf, ehrlich!), weil man sich das lästige Laster einfach abgewöhnen will, um den Genüssen unumschränkter Freiheit zu frönen. Auch hierzu gibt es inzwischen mehr Kurse und Ratgeber als Sterne am Himmel. Aber nur, wer ein wirklich starker, bekennender Raucher ist, fällt nach dem zuverlässigsten Entzug in die Sucht zurück und hat dabei schon die Fibel der nächsten todsicheren Entziehungskur im Handgepäck. In diesem, mal regelmäßig, mal spontan durchbrochenen Oszillieren zwischen Raucher- und Nichtraucherdasein liegt ein großer Quell des Unglücklichseins.
Dennoch: Elementare Bedürfnisse wie Essen und Trinken eignen sich fast noch besser, wenn Sie das Motto, werde Dir untreu, in die Tat umsetzen wollen.
Was man isst, ist man, das weiß schon der Volksmund. Und genau so sehen inzwischen drei Viertel der US-amerikanischen und kaum weniger der mitteleuropäischen Bevölkerung auch aus: Wohlgenährt, mit dem gewissen Hang zur Fettleibigkeit, der das Leben der Dicken ohnehin schon scharf an die Grenze des Ausgestoßenseins rückt, weil sich das Schönheitsideal nicht an den Realitäten misst, sondern umgekehrt.
Klein-Wambo ist also mal wieder auf Diät. Er hat inzwischen aufgehört zu zählen, wie oft und vor allem wie viel er durch die Kuren und ihren berühmten Jojo-Effekt bereits zugenommen hat. Diesmal ist es jedenfalls eine absolut sensationelle Diät, die auf die regulierende Wirkung von Algen und anderem Grünzeug setzt – zum Wahnsinns-Preis von nur 49,40 € für kaum mehr als 10 Tropfen.
Was man von Klein-Wambo lernen kann ist zweierlei: Das unsystematische Durchführen von Diäten und Hungerkuren ist insofern von essentieller Bedeutung als sich dann, zuverlässig kein Wohl- und Glücksgefühl einstellt, bekannt etwa vom Heilfasten, weil der Körper durch abrupte Wechsel zwischen Fasten und Fressen nie genau weiß, wo er steht und deshalb präventiv in Deckung, das heißt eigentlich auf Nummer sicher geht und für den Notfall vorsorgt, sprich Fettdepots anlegt, wie sie einst für unsere Vorfahren, die Höhlenbewohner, lebensnotwendig waren, um über strenge Winter zu kommen. Ein Zweites beherrscht Klein-Wambo aber fast ebenso virtuos. Er schädigt sich von Kur zu Kur zusätzlich noch finanziell, damit sich der Misserfolg doppelt bezahlt macht. Wir kommen nicht umhin, zu sagen, dass es Klein-Wambo mit seinen 23 Lenzen bereits zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat, die ihm ein ziemlich sicheres unglückliches Leben garantieren wird, da die Gerissenheit und der Geschäftssinn von Diät-Aposteln, Gurus und Geschäftemachern ja zuverlässiger zu funktionieren scheinen als das Amen in der Kirche.
Zu den glänzenden Möglichkeiten des „Entzugs“ gehören einige weitere wichtige Beispiele, die wir an späterer Stelle noch ausführlicher behandeln. Frei nach Nietzsche: Der Asket macht aus der Tugend eine Not.
Hier erscheint uns ein anderer Hinweis angebracht: Sie selbst werden sich diese Frage schon längst gestellt haben: Was soll man tun, wenn man nicht weiß, was einem gut tut und was nicht? Dann allerdings wird man, sofern Sie den langen und beschwerlichen Weg der Selbsterkenntnis scheuen, auf reine Zufallserfolge angewiesen sein. Man kann übrigens auch darin eine gewisse Meisterschaft erlangen: sich über seine Vorlieben und Abneigungen bewusst im Unklaren zu lassen. Überraschungen, bisweilen bösartiger Natur, sind einem dann so gut wie sicher. Ob diese Form der unsystematischen Unglücklich-Machung allerdings wirklich befriedigend ist, sei dahingestellt. Wir raten eher zu anderen bewährten Methoden.
II) Sich regen bringt Segen, sich messen Malaisen
Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. - Søren Kierkegaard
Wir leben im metrischen Zeitalter. Daniel Kehlmanns Bucherfolg „Die Vermessung der Welt“ oder die geradezu explosionsartige Verbreitung von Messgeräten in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens, angefangen von simplen Chronometern (bei Rolex schon ab schlappen 20.000 € im Angebot) bis hin zu Blutdruck-, Luftdruck- und Temperaturmessgeräten (auch als Thermometer bekannt) mögen Beleg für diese simple Behauptung sein. Eigentlich messen wir (uns) ständig: mit dem Partner, den Arbeitskollegen, Kegelbrüdern, den Teilnehmern von Castings, anderen Clubs, Städten, Nationen – je nach Anlass und Bedeutung, mal mehr, mal weniger fair. Ob morgens auf der Waage, oder abends beim Zubettgehen (Bauchumfang), das „sich messen“ ist uns sozusagen in die Wiege gelegt. Und es eignet sich hervorragend, zum kostenlosen Eintritt in die Hallen der Unglückseligkeit, weil es das Scheitern sozusagen im Kern in sich trägt, obwohl wir quasi schon im vorembryonalen Stadium des Vielzellers auf Leistung getrimmt wurden.
Natürlich, und damit genug der Vorreden, messen sich nur Anfänger oder Schwächlinge an Schwächeren. Die eigentliche Herausforderung ist der Leistungsvergleich mit dem „höher, schneller, weiter – schöner, reicher, Nie-Zweiter“.
Erst in diesem Clinch zeigt sich der wahrhaft Starke, der bei einem Fehlschlag, versteht sich, umso tiefer zu fallen in der Lage ist.
Auch hier wieder einige Beispiele: Franz-Ferdinand ist ein durchschnittlich attraktiver junger Mann, der gute Manieren hat, gebildet und freundlich ist und über genug finanzielle Ressourcen verfügt, um seinen Rendezvous die entsprechende materielle Grundlage zu geben: Drinks, Präsente, Disco-Besuche – all inclusive! Er hat also eigentlich kein Problem, die Damenwelt für sich einzunehmen. Eigentlich! Aber mit Nicole, Nina und Nadine, die alle ganz passabel aussehen und vor allem wirklich nett sind, gibt sich unser Franz-Ferdinand nicht ab! Er hat sich in den Kopf gesetzt, nur die schönste, erfolgreichste und meistbegehrte junge Dame einer Kohorte, sagen wir eines Studienjahrgangs, zu begehren, und das seit seinem 15. Lebensjahr. Im Übrigen ist er auf den dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Typ festgelegt, freilich ohne sich von Äußerlichkeiten blenden zu lassen, wie er glaubt, und so zieht er meist gegenüber anderen Nebenbuhlern den Kürzeren. Er weiß: Immer die Schönste zu begehren, kann rein statistisch gesehen, in selten mehr als zwei von zehn Fällen gut gehen. Da er aber wider besseren Wissens, krampf- und krankhaft an seiner Strategie festhält und rein statistisch betrachtet, stark unter dem zu erwartenden Erfolgswert (2 von 10 geblieben ist), hat er Minderwertigkeitsgefühle entwickelt und ist deshalb auch bei weniger begehrenswerten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts im Werben um die Gunst der Holden dank seiner wachsenden Tollpatschigkeit anderen Bewerbern gegenüber immer häufiger ins Hintertreffen geraten. Das hat irgendwann dazu geführt, dass Franz-Ferdinand nicht einmal mehr den Mumm aufgebracht hat, eine ihm unbekannte Frau auch nur unverfänglich anzusprechen. Sein weiterer Leidensweg war damit vorgezeichnet (Antidepressiva, Psychotherapie), soll uns aber an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen, da wir Franz-Ferdinand ja nur als ein Beispiel von unzähligen anderen gewählt haben, die zeigen, wie schnell man sich mit dieser Strategie, immer nach dem Höchsten zu streben, vergaloppieren kann. Misserfolge sind quasi totsicher programmiert, und man wird mit wahren Salven von Rückschlägen und Enttäuschungen belohnt. Frei nach Goethe ließe sich kalauern: Immer nach den Sternen greifen, denn das Gute liegt so fern.
Gern genommen, um sich immer wieder mal so richtig mies zu fühlen, wird auch der direkte Vergleich mit dem Nachbarn. Nein, nicht der Angestellte von nebenan, der nur Opel fährt, beschwört unseren Ehrgeiz herauf. Auch der freundliche Hundebesitzer von vis-a-vis lässt uns ruhig schlafen, bugsiert er doch nur unförmige Japaner (oder gar Koreaner) durch das Viertel und nennt ein schlichtes Siedlerhäuschen mit Steildach sein eigen.
Schon anders ist es mit Herrn Geldwäscher von seitlich hinten, der jeden zweiten Monat mit einem anderen Cabriolet an unserer Hütte vorbeidüst, wobei er vor dem Vorbeifahren immer betont verlangsamt, um dann mit Vollgas um die nächste Ecke zu brausen.
Das mit den Sportwägen würde ich mir ja noch eingehen lassen, aber dass er auch noch das größte Grundstück im Umkreis besitzt, ein extra Carport für sein überdimensionales Wohnmobil braucht und neuerdings mit einem Geländewagen (SUV) den Trend zum Drittwagen kultiviert, das macht mich doch leicht porös.
Aber meine Frau sagt immer, Helmut, das ist doch nicht unsere Kragenweite! Lass diese Neureichen doch protzen, du wirst sehen, wie schnell der pleite ist. Die nächste Blase platzt garantiert da drüben, und dabei zeigt sie abfällig auf das feudale Bungalow von Herrn Geldwäscher, und ein maliziöses Grinsen umspielt ihre zarten Mundwinkel. Recht hat sie! Was sollen wir uns mit solchen Kapitalisten abgeben! Die wirken auch nicht wirklich glücklich, zumindest nicht glücklicher als unsereins, also, finito und weitermachen!
Warum ich mir vor kurzem von unserem Finanzberater einen Kredit für ein chices Cabriolet habe aufschwatzen lassen, das mit Sicherheit um einiges schneller von Null auf 100 beschleunigt als die lächerlichen Vehikel von Herrn Geldwäscher, kann ich wirklich nicht sagen. Es hat aber garantiert nichts mit dem Platzhirschgehabe unseres lieben Herrn Nachbarn zu tun, Ehrenwort! . . .
III) Reisen bildet, Nicht-Reisen nicht
Ein Gemüt wie ein Schaukelpferd – Glück und Unglück des modernen Weltenbummlers
Silke Noa Kumpf
Mal ehrlich: glauben Sie, Reisen bildet! Rein in den Flieger, raus aus dem Flughafen, rein ins Hotel, ab zum Strand! Und schon ist der IQ um zehn Stellen nach dem Komma gewachsen. Wirklich beeindruckend! Reisen dieser Art bildet genauso viel oder wenig wie Fernsehen, Flipper spielen oder Fingernägel kauen.
Aber es hat schon seinen gewissen unverkennbaren Reiz, sich in unserer turbomobilen Welt, dem Hang zur Dauer-Fort-Bewegung zu widersetzen. Damit macht man sich schon mal ohne große Anstrengung zum Außenseiter. Und Außenseiter sind immer verdächtig.
Warum der wohl nie verreist? Hat wohl kein Geld, was?
Im Gegenteil, der schwimmt im Geld.
Ach so, ja, warum verreist er dann nicht?
Vielleicht hat er ja Tiere?
Das wüsste ich . . .
Irgendwie komisch, was macht er dann mit seinem ganzen Geld?
Das wüsste ich auch gern!
Die Bäckerin hat neulich erzählt, er spendet viel.
Für die Tourismusbranche?
Quatsch!
Für wen denn?
Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?
Du weißt doch sonst immer alles . . .
Ich find’ das jedenfalls höchst merkwürdig so ein Verhalten.
Ja, irgendwie schon sehr auffällig.
Den werden wir mal etwas genauer beobachten.
Kannste vergessen, das hab ich schon versucht.
Und?
Fehlanzeige, der ist wie unsichtbar.
Vielleicht ein Spion?
Könnte sein!
Dann nichts wie weg.
Wahrscheinlich hat er uns schon im Visier, dieser üble Geselle . . .
Mit der konsequenten Mobilitätsverweigerung hat man also schon den ersten wichtigen Schritt getan. Man hat sich auf die Topliste des Dorf- oder Stadtteilklatsches katapultiert und kann nun der Dinge harren, die da kommen, weil es aufregend und irgendwie wohlig beunruhigend ist, wenn die Milchfrau mehr über einen weiß als man selbst.
Nicht zu reisen, erfüllt aber eine zweite wichtige Funktion. Wer nicht reist, setzt sich nicht der Gefahr aus, mit anderen Sitten und Gebräuchen konfrontiert zu werden, andere Sprachen und Menschen kennen zu lernen, kurz, seinen eigenen Standpunkt überdenken oder hinterfragen zu müssen. Sattsame Borniertheit und dröges Abgestumpftsein werden sich alsbald beim Reiseverweigerer einstellen, wenn man nur immer und immer wieder um sich selbst kreist, ohne sich von außerhalb in seinen Kreisen gestört zu sehen. Letzteres zeitigt bei manchem Zeitgenossen aber einen gefährlichen Nebeneffekt namens Zufriedenheit – stumpfe, unhintergehbare Zufriedenheit. Schon in der Bibel heißt es: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich (Matth. 5, 3). Die Römer sprachen in diesem Fall von Sancta Simplicitas (heilige Einfalt) und empfahlen Lectiones, speziell, Lektion 1: Wie werde ich unglücklich? (Siehe zu diesem Thema auch das letzte Kapitel).
Man muss also sehr genau darauf achten, ob man zu Typ A oder Typ B gehört. Typ A leidet an seiner zunehmenden Verblödung infolge fehlender Außenreize durch Reiseentzug. Nur für ihn ist dauerhafte Reiseabstinenz als Behandlung sinnvoll. Typ B hingegen sonnt sich in seiner steten Verdummung. Für ihn ist beizeiten das genaue Gegenteil, nämlich gesteigerte Reisetätigkeit, anzuraten. Nur so kann Typ B bleibend aus seiner Zufriedenheitslethargie gerissen werden. Angesichts der Pyramiden von Gizeh, des Kolosses von Rhodos, des schiefen Turms von Pisa oder anderer Staunen machender Sehenswürdigkeiten wird sein zwergenhaftes Weltbild Risse und Erschütterungen erfahren, die die solide Basis der Zufriedenheit allmählich zerstören. Um diese Befindlichkeitsstörung nachhaltig zu therapieren, werden im Sinne einer Langzeitbehandlung freilich mehrere Weltreisen vonnöten sein, was den kleinen Geldbeutel etwas überfordern dürfte. Wir empfehlen in diesem Fall Diavorträge, Bildbände, Reisereportagen im Fernsehen oder Reiseberichte im Internet. Sie erfüllen die angestrebte Wirkung zwar nicht im gewünschten Umfang, reichen aber hin, um das Zufriedenheitsbollwerk des Klienten empfindlich anzuknabbern. Kürzere Reisen ins benachbarte Ausland mögen das Übrige tun und den Kandidaten aus seiner spießigen Genügsamkeit in Rastlosigkeit, Unruhe und Verunsicherung überführen. Beste Voraussetzung, um alsbald die nächste Stufe der Unglückseligkeit zu erklimmen . . .
IV) Wellness ist Teufelszeug
Glück besteht in der Kunst, sich nicht zu ärgern, dass der Rosenstrauch Dornen trägt, sondern sich zu freuen, dass der Dornenstrauch Rosen trägt.
Arabisches Sprichwort
Sollten Sie sich von all dem bisher Aufgezählten nicht angesprochen fühlen, brauchen Sie nicht ungeduldig werden (obwohl Ungeduld eine für manchen geeignete Einstiegsdroge ins Unglücklichwerden sein mag). Wir haben noch eine schier endlose Liste von Vorschlägen und Beispielen in petto, die Sie die Fährnisse der Unbeschwertheit elegant umschiffen lehren. Andererseits, ein wenig Unmut darf sich beim Lesen dieser Zeilen schon einstellen. . . Er mag Vorbote und Wegbereiter sein für weitere Exkurse ins Reich des Unwohlseins und echter, tiefer Kümmernis.
Also quälen Sie richtig ruhig noch etwas durch jene Zeilen, die ein aufopfernder Mitmensch für Sie aufgezeichnet hat, um Sie vor Langeweile und grauem Einerlei zu bewahren, es wird sich – wer weiß – am Ende für Sie auszahlen . . .
In gewisser Hinsicht kehren wir in diesem Kapitel zu dem zurück, was wir eingangs schon erwähnt haben (Sei Dir auch mal untreu!), verschärfen und verdichten es aber in gezielter Weise so, dass eine noch größere Anzahl an Mitmenschen sich angesprochen fühlen wird.
Im Kern geht es um einen Wahlspruch, den auch Paul Watzlawick bereits in seinem vielbeachteten Werk zitiert hat. Sinngemäß lautet dieser den Puritanern zugeschriebene Leitsatz: Du darfst alles, solange es dir keinen Spaß macht! Diese Formulierung räumt dem geneigten Leser dank seiner recht allgemein gehaltenen Aussage zwar größtmögliche Freiheiten ein, lässt ihn aber andererseits mangels konkreter Anweisungen auch ziemlich uninspiriert zurück. Wie gelingt spaßfreies Leben denn nun zuverlässig? Wo lauern die wirklichen Risiken der Unbekümmertheit und so weiter?
Unsere Rezepte sind hier weit unzweideutiger:
Erstens: Entspannen Sie sich, ob im häuslichen Umfeld oder am Arbeitsplatz möglichst selten, das führt in der Regel schnell und unweigerlich zu körperlichen Beschwerden (Kopfschmerz, Übelkeit, Schwindel, Herzrasen etc.), die mangels organischer Ursachen gern als psychosomatische Leiden diagnostiziert werden (dazu später mehr). Das qualifiziert Sie in ihrer Umgebung rasch als eingebildeten Kranken. Eine Spezies, die nicht nur von Ärzten, sondern häufig auch im engsten Familienkreis gemieden wird (Weichei! Wehleidiger Simpel! Simulant!).
Zweitens: Meiden Sie Ablenkungen jedweder Art. Besonders gefürchtet sind Komödien, Witzbücher, Lustspiele, unterhaltsame Comics, TV-Soaps, Cabaret, Comedy etc. – schlicht alles, was den Lachnerv unzulässig reizen und die Zerstreuung auf einer Skala von 1 bis 10 gefährlich in die Nähe der Marke 5 und höher treiben könnte. Sie ersparen sich damit viel Lebensfreude, Unbeschwertheit und lästiges Amusement.
Drittens: Halten Sie sich von so genannten Wellness-Tempeln fern. Geruchskuren, Entspannungstees, Massagen, Sauna, Ayurveda, Yoga, SPA und was die moderne Entspannungskultur sonst noch an überflüssigen Methoden, Mittelchen und Techniken bereithält, sollte für Sie absolut tabu sein. Nur so können Sie sich vor geldgierigen Scharlatanen schützen und gleichzeitig selbstbewusst behaupten: Mein Problem ist hausgemacht!
Sollte es sich einmal absolut nicht machen lassen, die unter 1-3 genannten Rezepte zu befolgen, dann beherzigen Sie bitte folgende Hinweise:
Augen zu und durch!
Sobald Lust oder ein ähnlich verführerisches Gefühl in Ihnen aufkommen, sofort an etwas Unangenehmes denken:
z.B. den gefüllten, übelriechenden Nachttopf ihrer ehrwürdigen Frau Großmama . . . (heute nur noch schwer erhältlich!)
oder den fahlwarzigen Tumor im Gesicht Ihres Nachbarn . . .
oder erinnern Sie sich einfach daran, als es Ihnen einmal so richtig saubeschissen schlecht und dreckig ging (nach dem 17. Bier oder beim ersten Liebeskummer oder nach der wievielten (?) verpfuschten Führerscheinprüfung, als Sie grippekrank und fiebrig hüstelnd darnieder lagen oder, oder, oder). Irgendetwas wird Ihnen schon einfallen. Imagination ist das halbe Leben!
Denken Sie stets daran, dass Sie im Moment, ob freiwillig oder nicht, etwas wirklich Böses tun. Das steigert ihr schlechtes Gewissen, und der Lustgewinn wird sich in Grenzen halten.
Bestrafen Sie sich nach dem Durchlaufen der entspannungsreichen Durststrecke durch mindestens die doppelte Dosis dessen, was Sie sich sonst an selbstauferlegten Qualen abverlangen – aber selbstverständlich nur dann, wenn Sie nicht zum Masochismus neigen, denn sonst wären diese Übungen höchst kontraproduktiv.
Es versteht sich von selbst, dass die nur vorübergehende Befolgung der oben erwähnten Regeln nicht automatisch dazu führt, dass Sie sich von heute auf morgen schlechter fühlen. Glauben Sie wirklich, allein von schnellen Erfolgen leben zu können? Wie undankbar und uneinfühlsam! Lassen Sie den Kopf doch einfach schon mal zwischendurch hängen, das trainiert für die spätere Zeit der chronischen Niedergeschlagenheit. Passion braucht eben Patience. Wer ein echter Unglücksrabe sein will, braucht Ausdauer, Disziplin und unnachgiebige Härte gegen sich selbst. Wie sagten die Römer doch gleich, ach, lassen wir das . . .
V) Antizipieren geht über Studieren
Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt - die meisten Menschen existieren nur.
Oscar Wilde
Kennen Sie das auch? Der Tag ist überraschend gut gelaufen, man hat mal wieder richtig herzhaft gelacht, Freunde getroffen, amüsiert geplaudert, gut gegessen, vielleicht ein Nickerchen am Nenster gemacht – und dennoch beschleicht einen gegen Abend ein merkwürdiges Gefühl, ein Gefühl, das so viel besagt wie: Der große Hammer, körperliche Pein, eine absolute Enttäuschung oder die Schreckensbotschaft schlechthin stehen für diesen Tag wahrscheinlich noch drohend bevor. Kurz: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Sobald dieser Gedanke mehr und mehr von einem Besitz ergreift, überzieht sich die gute Laune schnell mit einer Firnis aus Verunsicherung und Missmut, und der noch vor Stunden ungetrübte Frohsinn befindet sich langsam, aber stetig auf dem Rückzug.
Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Nein, dann können Sie dieses Kapitel wahrscheinlich getrost überblättern. Ja, sehr wohl! Dann allerdings sind Sie bestens geeignet, auf diesem Weg schnurstracks in die Unglückseligkeit zu schlittern. Es gibt nämlich schier endlose Varianten dieser Methodik, die allesamt mehr oder minder zuverlässig funktionieren.
Verweilen wir erst noch einen Moment beim Beispiel von oben . . . Angenommen der Spätnachmittag dieses von Zufriedenheit und Wohlsein nur so überstrahlten Tages mündet unmittelbar in einen Abend von ebensolcher Wärme, Harmonie und Schönheit, so dass die von Ihnen längst stillgelegt geglaubten Depots mit der Aufschrift „Glückshormone“ schlagartig reanimiert werden, und ein wahres Feuerwerk glücklich machender Endorphine, Serotonine und Tryptophane sie durchströmt – dann bleibt Ihnen immer noch die Hoffnung auf eine quälende, von Alpträumen gezeichnete Nacht. Sollten Sie auch in dieser Hoffnung enttäuscht werden, dann, ja dann könnte Ihnen tatsächlich eine ganze Folge von angenehmen Tagen bevorstehen. Freilich bringt das ihren Argwohn erst recht auf Hochtouren, denn: Schon jedes Kind weiß, dass es im Leben immerzu auf und ab gehen muss!! Anders gesagt: Auf sieben fette, werden sieben magere Jahre folgen, wobei sich das Alte Testament nicht in der Sache, wohl aber in der Länge der Zyklen getäuscht haben mag. Übersetzt in unsere Geschichte: Spätestens nach sieben, siebzehn oder – gütiger Gott – auch siebenundzwanzig angenehmen Tagen folgt zwangsläufig irgendwann eine schlimme Phase, die man bei aller Neigung zum Optimismus nicht mehr als angenehm wird bezeichnen können.
In der Literatur ist dieses Phänomen vor allem durch unseren Freund Sisyphos in der antiken Sage treffend beschrieben. Denn er freut sich immer dann (in Form der Vorfreude), wenn er den Felsbrocken am Berg nach oben wuchtet auf den Moment, wenn der Stein von selbst nach unten kollert – keineswegs dann, wenn sich der Stein tatsächlich nach unten bewegt . . . Auch Till Eulenspiegel war ein Meister dieses Fachs, beherrschte er der Sage nach doch nur ein Geigenstück und das hieß: "Alle Dinge eine Weile".
Aber Vorsicht! Auch hier ist man vor billigen Fußangeln und durchtriebener Hinterlist nicht gefeit. Der Philosoph Albert Camus schreibt in seinem Werk Der Mythos von Sisyphos: ,,Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen!"
Wie das? - Eben weil er sein Schicksal angenommen hat!
Will man daher den vierschrötigen Weg des Unglücklichseins beschreiten, tut man gut daran, diesen als schicksalhaft notwendig erkannten Wechsel zwischen angenehmen und weniger angenehmen Lebensabschnitten auf keinen Fall als solchen hinzunehmen, sondern sich immer wieder mannhaft dagegen zu stemmen – wie Sisyphos gegen seinen Stein.
Und wahrhaftig, was lässt sich aus einer positiven Lebensphase nicht alles an negativer Energie herauskitzeln. Es ist zum Beispiel durchaus denkbar, dass die schlechte bevorstehende Zeit, in dem Maße schlecht wird, wie die gute gut war. Vielleicht wird sie diese in ihrer Ausprägung sogar noch deutlich zu überschreiten wissen. . . Oh weh, oh weh, wie schlecht muss es mir dann alsbald ergehen, denkt sich der Unglücksfamulus nicht ohne verschmitzten Hintersinn, wo es mir doch jetzt so verdammt gut geht. Und es gibt kein Mittel zwischen Himmel und Hölle, das diesen verfluchten Automatismus aufzuhalten in der Lage wäre??!!
Wir wissen nicht, was Zeus seinen Untertanen und Nebengöttern in diesem Fall empfohlen hat. Wir schwören auf die Kraft der böswilligen Unterstellung und der negativen Antizipation. Doch auch hier eins nach dem andern . . .
Das Beispiel halbleeres versus halbvolles Glas in diesem Kontext zu zitieren, ist zu billig (auch wenn es den Umstand wunderbar auf den Punkt bringt, dass man ein und denselben Sachverhalt völlig unterschiedlich bewerten kann). Es gibt gerade in diesem Zusammenhang einfach Naturbegabungen, die man wahrscheinlich auch mit hingebungsvollster Übung nie wird erreichen können.
Gemeint sind diejenigen Zeitgenossen, die an allem und jedem etwas auszusetzen haben. Von Ihnen lässt sich einiges lernen, wenn man sich mit den Gegebenheiten des Lebens nicht einfach so abfinden will.
Beispiel: Mein nörgelnder Oberlehrer- und Besserwisser-Freund Sigi Schlaumeier und ich haben soeben einer schier überirdisch perfekt inszenierten Darbietung des „Faust“ beigewohnt. Wir schwelgen geradezu im Rezitieren des reichen Zitatenschatzes, als Sigi plötzlich einhält und meint: So gut war er auch wieder nicht, unser Mephisto-Darsteller, den Gründgens wird er jedenfalls niemals erreichen. So was gibt es wahrscheinlich in tausend Jahren nur einmal! Überhaupt diese scheinbare Perfektion in der Inszenierung hat doch etwas sehr Angestrengtes, mir war das schon fast zu perfekt! Das Bühnenbild hingegen, irgendwie unpassend, fast kitschig. Findest Du nicht auch, dass das alles nicht wirklich aufeinander abgestimmt war?
Wir unterbrechen an dieser Stelle und lenken unsere Aufmerksamkeit auf ein zweites Beispiel, da das gerade genannte zu Missverständnissen Anlass geben könnte . . . Tatsächlich ist es natürlich so, dass sich Sigi Schlaumeier dank all seiner Häme und Besserwisserei um den Erfolg des Negativ-Erlebnisses bringt. Denn . . . tatsächlich fühlt er sich mit jedem weiteren bissigen Kommentar von mal zu mal besser, es verleiht ihm ein Gefühl überlegener Souveränität, wenn er die Inszenierung genüsslich auf seine Schwachpunkte hin „zerlegt“.
Vor diesem Irrweg müssen wir daher entschieden warnen! Viele machen vieles schlecht, weil sie sich „pudelwohl“ dabei fühlen, sich geradezu in einen Rausch der Herumkrittelei hineinsteigern und sich hinterher wie die „Kings“ der Szene fühlen, weil sie alles besser zu wissen glauben. (Es mag darin einer der Gründe liegen, warum wir den Eindruck gewinnen, die Welt – „die gute alte Zeit“ – entwickle sich zunehmend vom Guten zum Schlechten und nicht vice versa).
Diese Form der „Realitätsklitterung“ ist indes nur sehr bedingt Ziel führend. . . Dann zum Beispiel, wenn die „Besserwisserei“ auf Widerstand stößt, wenn Sigi Schlaumeier beispielsweise Widerspruch von seinem Gegenüber erntet oder vielleicht sogar als „Wiederholungstäter“ entlarvt und von seinen Mitmenschen mehr und mehr gemieden wird. Dann freilich kann auch diese Strategie zum Erfolg führen, sie eignet sich jedoch gewiss nicht für Einsteiger und bedarf einer gewissen Routine.
Das berühmte Haar in der Suppe zu finden, ist nicht allzu schwer, auch wenn es sich mitunter in anderer Darreichungsform (mit/ohne, zu viel - zu wenig Salz) oder anderem Aggregatszustand (zu heiß, zu kalt) zu zeigen weiß – wer wüsste das nicht. Die entscheidende Frage lautet: Sucht und findet man es, weil oder damit man sich schlecht fühlt. Für unsere Belange hat selbstredend nur Letzteres Bestand. Ersteres zeugt zwar von einer gewissen Meisterschaft, taugt an dieser Stelle aber nicht als wirkliche Rezeptur, da es sich nur für Fortgeschrittene eignet, die ihren beruhigenden Schlechtfühlzustand quasi verstetigen wollen. Kurzum: Suche und finde „das Haar“, aber vermeide unbedingt, dies als Erfolg zu verbuchen. Wer hier (nachvollziehbare) Schwierigkeiten hat, sollte sich lieber auf verlässlichere Praktiken verlegen.
Nun aber zu unserem angekündigten, zweiten Beispiel: Wir leben in unübersichtlichen Zeiten, wer würde dem widersprechen wollen, und nehmen erbittert zur Kenntnis, dass diese auch angenehme Überraschungen hervorbringen können. Wer beispielsweise noch vor wenigen Monaten behauptet hätte, die konservative Regierung betreibe mit Nachdruck den Atomausstieg, hätte sich zum öffentlichen Gespött gemacht: Wer bitte, was bitte? War es nicht dieselbe Regierung, die vorher den Ausstieg aus dem Ausstieg mit aller Macht besiegelt hatte? Diese 180-Grad-Kehrtwende in der Energiepolitik beschert nicht nur den Anhängern der C-Parteien gehörige Bauchschmerzen, sondern auch einer ganzen anderen „Spezies“, den Öko-Nörglern nämlich. Soll man dem Ausstieg nun zustimmen oder weiter miesepetern? Die Grünen haben als Partei eine klare Antwort gegeben – aber das juckt den Umweltfundi nicht. Im Gegenteil. Es befeuert ihn geradezu, den Plan der Regierung erst recht madig zu machen, kommt er doch von der falschen „Seite“, kann also von Haus aus nichts taugen, ist unglaubwürdig, immer noch viel zu langfristig angelegt und überhaupt . . . Wer ein traditionsbewusster Fundamentalopportunist, pardon -opponent ist, lässt sich so leicht von seiner mühsam zurecht gelegten Meinung nicht abbringen. Und das Nörgeln hat qua Gewohnheitsrecht seine Richtigkeit. Diese Form von manifestem Unwohlsein will man sich nicht auch noch nehmen lassen – basta! Gelernt ist eben gelernt . . .
VI) Nehmen ist seliger denn Geben (aber nur mit der richtigen „moralischen Ausstattung“)
Was du gibst, macht dich nicht ärmer.
Antoine de Saint-Exupéry
Dieser weise, aber unbewiesene Satz wird bekanntlich Antoine de Saint-Exupéry, dem Erfinder des Petit Prince, zugeschrieben. Im kleinen Prinzen versteigt sich Saint-Exupery zu einem wahren Feuerwerk an (zumindest auf den ersten Blick) paradox anmutenden Geschichten, Vergleichen und Erzählungen, die von ergreifendster menschlicher Erfahrung und philosophischem Tiefsinn nur so strotzen. Freilich steht auch ein Großer wie er nur auf den Schultern von Riesen, denn schon weit vor ihm hat ein anderer großer Geist, Paulus nämlich, Jesus mit dem Satz zitiert: Geben ist seliger denn nehmen.
Wer kennt sie nicht, diese berühmte Sentenz aus dem Neuen Testament? In katholischen Kreisen hat die Betonung des Gebens (unter sträflicher Vernachlässigung des Nehmens) eine geradezu impertinente Tradition.
Gebt, und es wird euch gegeben werden. Wer großherzig ist, wird immer Segen empfangen, hat uns beispielsweise Papst Johannes XXIII wissen lassen. Auch er hat dabei seine Quellen geflissentlich verschwiegen, wie es gegenwärtig in Mode zu kommen scheint. (Oder hat sich der Autor dieses Zitat nur unvollständig notiert?)
Wie weit man in der Geschichte des Gebens auch zurückgehen mag, man wird immer noch eine Quelle finden können, die noch früheren Datums ist. Von dem lateinisch sprechenden Dichter Ovid beispielsweise stammt angeblich folgender Satz: Das Geben erfordert Verstand.
Damit scheint diese königliche Tugend für einen Großteil unserer Leserschaft zwar von vorneherein auszuscheiden. Aber wir wollen unseren Gegenstand ja forthin mit dem gebührenden Ernst behandeln: Gesetzt also – Geben ist tatsächlich so selig machend, wie es uns die zitierten Quellen glauben machen wollen, dann m ü s s e n wir Ihnen, lieber Leser, an dieser Stelle selbstredend entschieden davon abraten, zu geben. Schließlich wollen Sie ja allzeit den edlen Pfad des Missmuts beschreiten. Das heißt im Umkehrschluss: Nehmen, raffen, selbst behalten, gierig verschlingen das ist unser Credo, um in den Genuss des Übelgefühls zu gelangen, ein richtig schlechter Mensch zu sein. Aber Obacht!! Diese Stilübung gelingt nur mit der entsprechenden moralischen Ausstattung – einer christlichen Erziehung etwa – oder einer ethisch auf Altruismus „getrimmten“ Grundhaltung. Sind Sie hingegen das vielzitierte Schwein (Die Prinzen), von dem so oft die Rede ist – auch Fiesling oder Drecksau genannt –, sollten Sie unbedingt quasi paradox handeln und es mit Saint Exupery halten, wenn Sie einer Glückssträhne konsequent und dauerhaft aus dem Weg gehen wollen.
Wenn Sie nicht sicher sind, zu welcher Kategorie Sie zählen (Schwein/Nicht-Schwein, Halb- oder Viertelschwein), wechseln Sie einige Zeit zur Probe möglichst sprunghaft zwischen beiden Strategien hin und her. Ein Ergebnis, welche Handlungsweise Sie dauerhafter unbefriedigt zurück lässt, sollte sich alsbald empirisch nachweisen lassen. Bleibt es bei der Ungewissheit könnte sich auch diese mit der Zeit zu einem hinreichend starken Zustand der Verdrießlichkeit auswachsen und Sie kommen Ihrem Ziel immerhin über Umwege näher. Bisweilen ist eben doch ein wenig Geduld vonnöten, um sich veritabler Unglückseligkeit erfreuen zu können. Bisweilen – ja, aber ich kann Sie beruhigen, keineswegs im Regelfall.
Nistet sich die Ungewissheit allerdings als ein permanentes Gleichgültigkeitsgefühl bei Ihnen ein, sollten Sie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ernst zu nehmende Ursachen könnten hierfür verantwortlich sein. (Den Arzt oder Apotheker zu fragen, hilft hier bedauerlicherweise nicht weiter). Guter Rat ist in diesem Fall vermutlich teuer. Am besten Sie suchen einen der vielen Beratungsscharlatane aus dem Medizin-, Psycho- oder Esoterikbereich auf, achten darauf, dass jene möglichst viel Geld für ihre Dienstleistung verlangen, Ihnen den Frohsinn auszutreiben, und erreichen so über die Hintertür eine gleichsam indirekt, gleichwohl zuverlässig vermittelte Emotion der Miesepetrigkeit, weil Sie sich nun tagelang über die unverschämt „gepfeffert“ hohen Rechnungen Ihres Therapeuten aufregen können, die keine Krankenkasse zu übernehmen bereit ist: Sie echauffieren sich nach Herzenslust, und jedermann wird Sie verstehen, woraus ein sekundärer Krankheitsgewinn erwächst, der Sie zuverlässig und dauerhaft vor Glücksattacken wappnet.
Ungleich verschärfter nimmt sich die Sachlage freilich bei einem Märchen aus, das wahrscheinlich deshalb vollkommen aus der Mode gekommen ist:
Hans im Glück erhält als Lohn für sieben Jahre Arbeit einen kopfgroßen Klumpen Gold. Soweit, so gut. Diesen tauscht er allerdings nach kurzer Zeit gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, und die Gans gibt er schließlich für einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein her.
Er glaubt, jeweils richtig zu handeln, da man ihm sagt, ein gutes Geschäft zu machen. Von Stück zu Stück hat er auf seinem Heimweg scheinbar weniger Schwierigkeiten. Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in einen Brunnen. Das Märchen lässt mehrere volkstümliche Interpretationen („Lehren“) zu, die auf der Hand liegen. Dabei: „Nur die Einfalt findet das Glück“ oder „Frei zu sein, ist mehr als Gut und Geld“ oder auch „mundus vult decipi“ (lat., „die Welt will betrogen sein“). Künstlerisch ist dies als eine Stärke anzusehen (zitiert nach wikipedia – Stichwort: Hans im Glück).
Ob man „Hans im Glück“ nun als trotteligen Cretin oder leuchtendes Vorbild eines selbstlosen Genies ansehen will, bleibt jedem selbst überlassen. Für unsere Betrachtung ist wichtig, dass es immer mehrere Wege gibt, das Glück zu umgehen. Eine Tatsache sei hierbei nicht unerwähnt. Der spanische Schriftsteller Salvador de Madariaga y Rojo (1886-1978) bringt sie in einem wunderbaren Aphorismus zum Ausdruck: "Das Gewissen hindert uns nicht, Sünden zu begehen. Aber es hindert uns, Sünden zu genießen."
Wie eingangs dieses Kapitels bereits erwähnt, sollte man daher frühzeitig und ausdauernd an einer formenreichen Ausprägung des Gewissens arbeiten, da es nichts Eindrucksvolleres auf der Skala des Unglückseins und -werdens gibt, als ein fortwährend schlechtes Gewissen, das einen auf Schritt und Tritt verfolgt, quält, belastet und nicht zur Ruhe kommen lässt.
Ein Beispiel aus der Nürnberger Presse (vom 02.09.2008):Außergewöhnliche Verwendung für Geld, das sie Mitte August aus ihrer Firma in Nürnberg gestohlen hatte, hatte eine 31-jährige Oberfränkin. Nach dem Diebstahl verbrannte sie die Geldscheine.Die Angestellte nutzte am 19. August 2008 die Gelegenheit, aus dem geöffneten Safe der Baufirma mehrere Tausend Euro Wechselgeld zu stehlen. Unbemerkt konnte sie die Scheine mit nach Hause nehmen.Wenige Tage später, so ihre Angaben, plagte sie das schlechte Gewissen ob des Diebstahls. Sie hinterlegte das Geld zunächst bei einer Bekannten. Schließlich entschloss sie sich, die Scheine in einen Topf zu legen und zu verbrennen. Die Asche verstreute sie auf einem Feld.Trotz der Vernichtung des Beweismaterials gelang es der Kripo Nürnberg, die Beschuldigte zu ermitteln. Offensichtlich erleichtert legte sie in ihrer Vernehmung ein Geständnis ab.
Auf unserer internen Skala (von 1-10) für Erfahrenheit im Unglücksumgang – speziell unter Anwendung von Gewissensbissen - wird man der Delinquentin eine bestenfalls anfängerhafte Einstiegsbewertung von 1-2 erteilen dürfen, da es ihr nicht gelungen ist, die Schlagkraft eines schlechten Gewissens für ein dauerhaft währendes Unglückserleben zu nutzen. Unser Rat: Wählen Sie zunächst eine kleinere Geldsumme: Ihr schlechtes Gewissen wird dann peu a peu mit den Aufgaben wachsen . . .
VII) Wer sich selbst verletzt, ist klar im Vorteil
Das Glück ist ein Schmetterling. Jag ihm nach, und er entwischt dir. Setz dich hin, und er lässt sich auf deiner Schulter nieder.
Anthony de Mello
Hier kann und soll es nicht um psychiatrisch auffällige Verhaltensabweichungen wie Borderline-Syndrom oder ähnlich schwere Fälle krankhafter psychischer Abweichungen gehen.
Wir beschäftigen uns mit den zahlreichen und vielfältigen Vorläufern dieser Erscheinungsformen, die sich freilich mitunter im fließenden Übergang zu pathologischen Befunden befinden.
Überliefert ist beispielsweise der Fall eines Mannes, dessen Grundsatz es war, stets nach den Sternen zu greifen. Sein Motto lautete: Nur wer das Unmögliche will, wird das Mögliche erreichen. Dieser Mann, nennen wir ihn einmal Franz K., hängte sich den „Fresskorb“ stets so hoch, dass er mit dem Erreichten nie zufrieden sein konnte, weil es von seinen (zu hoch geschraubten) Erwartungen regelmäßig um „Lichtjahre“ abwich. Möglicherweise hatte diese Eigenart auch mit einer frühkindlich erworbenen Selbstüberschätzung zu tun. Franz K. hielt sich in der Regel für etwas „Besseres“ und war deshalb der Meinung, sich auch mehr abverlangen zu müssen als der „Durchschnitts-Mensch“: Schon in der Schule war Franz K. mit guten oder sehr guten Zensuren unzufrieden. Für ihn waren nur exzellente Leistungen akzeptabel. Weil er aber, wie voraussehen, keineswegs nur herausragende Leistungen quer durch alle Fachgebiete abzuliefern in der Lage war, stellte sich bei Franz K. bald eine bohrende, tiefsitzende Unzufriedenheit ein, die er wiederum als weiteren Beweis einer Sonderstellung für sich in Anspruch nahm. Eine so ausgeprägte Unzufriedenheit, wie er sie zu erleben und vor allem zu demonstrieren verstand, war nicht jedem gegeben. Hier musste schon ein wahrer Lebenskünstler (im umgekehrten Sinne) am Werke sein. Und dies wollte Franz K. auch wirklich jedem/r vermitteln, der/die das Glück hatte, ihm über den Weg zu laufen.
Diese Geschichte sollte uns ebenso aufmerken lassen wie ein zweite, die mir
von einer Arbeitskollegin erzählt wurde. Annemarie M. war eine attraktive Betriebswirtin, die es in ihrer Firma bereits zu Ansehen und einer guten Stellung im mittleren Management gebracht hatte. Jedem war indes bekannt, dass sie sehr ehrgeizig war und nach Höherem strebte. Während Arbeitskollegen der Meinung waren, sie habe mit ihren Anfang 30 schon eine ganz Menge erreicht, schien ihr alles zu langsam zu gehen und zu lange zu dauern. Anstatt sich über den Respekt und die Anerkennung der anderen zu freuen, begann sie immer länger und verbissener zu arbeiten, zog immer mehr Projekte an sich, ließ keine Dienstreise und keinen Kongress aus und pflegte seit geraumer Zeit regelmäßigen Kontakt zu Medien, indem sie allerlei Fachartikel, Interviews und Ratgeberbeiträge, die ihr Konterfei zierte, dort anbot. Niemand konnte es mit Gewissheit sagen, böse Zungen aber behaupteten, ihre Arbeitswoche bewege sich mittlerweile bei 65 bis 70 Stunden, was selbst in ihrem Fall geringen Schlafbedürfnisses nach einigen Monaten Spuren hinterließ. Annemarie M. wirkte fahrig, unausgeglichen, impulsiv und bisweilen ruppig im Umgang mit Arbeitskollegen, Untergebenen, durchaus aber auch mit einigen ihrer Vorgesetzten, was dort zu allgemeinem Unmut führte.
Glaubt man den Erzählungen, dann hatte Annemarie M. vieles erreicht, was vielleicht in unserem Sinne der Unglücks-Philosophie von hohem Interesse ist, mitnichten jedoch eine Beschleunigung ihrer Karriere. Sie wirkte nach Aussagen meiner Kollegin nach einiger Zeit niedergeschlagen, teilweise aggressiv, missmutig und häufig gereizt, und sah sich deshalb nach einer Zwangsversetzung in eine andere Abteilung bald mit der Forderung der Geschäftsleitung konfrontiert, ein unwichtiges Projekt übernehmen zu müssen, das weder mit ihrer Ausbildung noch mit ihren offensichtlichen beruflichen Stärken zu tun hatte. Hier schien es Annemarie M. offenbar geraten, die Reißleine zu ziehen und das Unternehmen zu verlassen. Ihre Spur verlor sich trotz moderner Kommunikationstechnik, Handy und Kontaktfreudigkeit seitens der Belegschaft schnell im undurchsichtigen Dickicht unseres Großstadtdschungels. Das Letzte, was meine Kollegin von Annemarie M. gehört hatte, war, dass sie sogar eine Weile arbeitslos gewesen sein soll und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten musste. Eine steil aufsteigende Karriere hatte so ihr jähes Ende gefunden.
Wer nun glaubt, allgemeine Überforderung, Arbeitssucht und übertriebene Pflichterfüllung seien die einzigen Garanten für Unzufriedenheit in der Berufswelt irrt (und zwar gewaltig).
Die meisten unserer Mitmenschen quälen sich tagein, tagsaus mit Jobs herum, die ihnen keinen Spaß machen – zugegeben. Aber sie tun dies unsystematisch und vielfach ohne ausgeprägtes Problembewusstsein, so dass sie sich um den Erfolg einer tiefgreifend angelegten Unglückssträhne bringen. Natürlich ist es frustrierend sich immer wieder aufs Neue ins verhasste Büro, in die ungeliebte Werkstatt, die zum Albtraum gewordene Schule oder die kalte Industriehalle schleppen zu müssen. Aber anstatt dies 40 und mehr Stunden die Woche zu tun, tendieren immer mehr Menschen zum Teilzeitjob und setzen so wertvolle Stunden echten Verdrusses aufs Spiel. Diese Defizit lässt sich zwar teilweise durch Ungemach im Freizeitbereich kompensieren (siehe Kapitel: Trau, schau, wem). Weit einfacher ist es aber (wahrscheinlich), sich dieses tägliche Quäntchen Missmut und Verdrießlichkeit über eine ungeliebte Arbeit „einzufangen“.
Es soll Menschen geben, die rote Ampeln als eine diskrete Art der persönlichen Beleidigung empfinden. Meine Schwiegertochter gehört dazu. Sie kann sich über kleinste Selbstverständlichkeiten derart aufregen, dass es schwer fällt, ihre Anwesenheit länger als zehn Minuten zu ertragen, zum Beispiel dann, wenn sie behauptet, „Petrus“ habe sie mit dem schlechten Wetter quasi höchstpersönlich beleidigen wollen… Nicht jedem/r ist eine solche Gabe an Turbo-Erregbarkeit in die Wiege gelegt. Das heißt man muss zuweilen etwas nachhelfen, sollte einem/r die dritte hintereinander auf „rot“ wechselnde Ampel noch immer keinen Fluch entlocken.
Ein probates, kostenloses und höchst zuverlässig wirkendes Mittel ist der Schlafentzug (bei Männern wirkt auch Sex-Entzug – dazu später). Wie vorhin schon am Beispiel von Annemarie M. erläutert, können wenige Tage Schlafentzug aus einem Buddha an Ausgeglichenheit einen hochgradig nervösen Derwisch werden lassen. Es genügt bereits, abends wenige Halbstunden zu spät ins Bett zu gehen und sich morgens ungewohnt früh per Wecker aus den Federn befördern zu lassen. Auch Schlafunterbrechungen (Lärm, Juckpulver, Gerüche etc.) tun hier gute Dienste, um den sonst in sich ruhenden Mitmenschen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Anfangs wird sich nur eine leichte Gereiztheit einstellen, Fahrigkeit im Umgang mit dem Frühstücksgeschirr. Bald stößt man sich an dieser, bald an jener Banalität. Wenig später aber wird aus der sprichwörtlichen Fliege ein Elefant: Rote Ampeln, wo man hinsieht, Schlangen an jeder Kasse, zerrissene Socken, wenn man denn überhaupt zwei gleiche findet, ein Auto, das nicht anspringt, schier unzählige Omas, die sich an der Wursttheke alle 125 verdammten Wurstsorten einzeln erklären lassen und so weiter und so fort. Und zu guter Letzt stellt man zu allem Unglück entsetzt fest, dass die Waage mal wieder falsch gehen muss: Zwei Kilo mehr in fünf Tagen – das ist einfach undenkbar, das ist einfach ungerecht, das ist . . . aber irgendwie auch rekordverdächtig. Wir liefern der Wissenschaft immerhin einen weiteren Beweis für die These, dass Schlafmangel dick macht. Sollten wir nicht auf diese frei schwebende experimentelle Zuverlässigkeit unseres Körpers stolz sein, der just das macht, was die Forschung sagt. Ein Prosit auf meinen Body. Dann trinken wir uns die Niederlage eben schön . . .
Halt! STOP! Gemach! Genau diese laxe, indifferente und doch abwägende Haltung im Umgang mit den Widrigkeiten des Daseins könnte sie um den wohlverdienten Unglückszugewinn bringen, der bei Schlafentzug so gut wie garantiert ist.
Exkurs:
Die männliche Sexualität ist ein Mysterium, die weibliche erst recht. Da sie auf entgegengesetzten Polen wohnen, ist ein Gleichklang eher die Ausnahme denn die Regel. Immerhin ist der männliche Geschlechtstrieb deutlich berechenbarer als der weibliche. Ein Mann will (fast) immer. Das macht ihn angreifbar, obwohl auf dieser Tatsache der Fortbestand der Art beruht. Kann er einmal nicht, gerät er schnell aus dem Gleichgewicht. Will man ihn also schädigen, genügt es ihr, an der Beischlafschraube zu drehen. Geht die Frequenz gegen Null, steigt sein Hormonspiegel schnell ins Unermessliche, sofern er nicht selbst Hand anlegt, (was auch in aufgeklärter Zeit unverständlicher Weise noch immer als verpönt gilt). Die Folgen längeren Sexentzugs können (für Männer) durchaus dramatisch sein: Unruhe und schlechte Laune sind nur die Vorboten möglicher Eruptionen, die sich bis hin zu brutalen Gewalttaten steigern können. Der Mann das Monster? Ja und Nein. Für den Fall von Sexentzug - ja. Für allgemeinere Betrachtungen müsste die Frage lauten: Der Mensch das Monster? Da uns im Moment aber vor allem der Zusammenhang von Unglück durch Sexentzug bei Männern interessiert, sei für alle maskulinen Vertreter dieses Planeten die kategorische Maxime formuliert: Meide Sex, dann geht es Dir unverzüglich schlecht. Meide Sex auf Dauer, dann es geht es Dir nach einer Weile vielleicht wieder besser, aber Du versäumst eine Menge. Meide Sex dauerhaft, dann wirst Du vielleicht zum Gegenstand der Heiligenverehrung (vermutlich aber nur in kleinen, unbedeutenden Zirkeln wie der katholischen Kirche). Leider können wir Frauen in diesem Punkt wenig Hoffnung machen. Für sie gilt es, nach alternativen Formen des Entzugs zu fahnden. Das Verbot von Schuhkäufen und Dauertelefonaten könnte hier ein geeignetes Mittel darstellen.
Geschlechtsindifferent einzuordnen ist hingegen der Einsatz von zu lauter Musik. Lärm in jedweder Form kann den Menschen jedweden Geschlechts bei Dauerbeschallung problemlos in den Wahnsinn treiben. Da dieses Mittel umso besser greift, je weniger man subjektiv auf die Auswahl, Lautstärke und Beschallungsdauer sowie -zeiten Einfluss nehmen kann, ist es anzuraten, sich einen entsprechend geeichten Nachbarn zu suchen, der einem das Leben möglichst unkalkulierbar „versüßt“ – mal mit eher klangbetonten (Techno, Heavymetal), mal mit eher kakophonen Beigaben (Presslufthammer, Kettensäge, Schlagbohrmaschine), mal mit allzu menschlichen Äußerungen wie lautstarken Streitereien oder exzessivem Liebesgestöhne. Behausungen in der Nähe von Flughäfen oder Bahnhöfen gelten hier ebenfalls als erste Wahl. Zarteren Gemütern mag es genügen, die Wohnung an einer vielbefahrenen Straße zu wählen, um aus der Haut zu fahren. Fest steht, dass Lärm zu den größten Stressoren unserer Zeit zählt – für Unglücksjünger daher ein weites und dankbares Feld.
VIII) Hypochondrie – (ebenfalls) ein weites und dankbares Feld
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Andreas Gryphius
Woody Allan macht es in „Hannah und ihre Schwestern“ vor: Zwei Minuten Erleichterung über die Diagnose des Arztes. Danach umso tiefere Betroffenheit: Dieser Arzt muss etwas übersehen haben!! Ich bin krank - und zwar schwer. Es kann gar nicht anders sein - bei meinen Symptomen! Also muss ich den Arzt wechseln, dieser da hat sich bestimmt einfach nur geirrt, er wirkte ja auch schon so zerstreut und geistesabwesend . . .
Der „eingebildete Kranke“ ist eine der zuverlässigsten Methoden, des Unglücks fette Beute zu werden und vor allem, ihm auf den Leim zu gehen und (auf immer) treu zu bleiben.
Es reicht in unserer medizinisch so aufgeklärten Zeit eigentlich schon der Blick in die Apotheker-Postille, um suggeriert zu bekommen, dass man – wenn es nach der pharmazeutischen Industrie geht, eigentlich gar nicht gesund sein kann – bei der Vielzahl der wirkungsvollen Medikamente, die eine raffgierige Pharma-Mafia ständig an den Mann und die Frau zu bringen wünscht. Und überhaupt, was es heute bereits an Diagnoseverfahren gibt, die bereits kleinste Abweichungen von der Norm als Operationsfall entlarven, zumindest aber für eine mehrwöchige Salben- oder Pillentherapie empfehlen. Auch die verfeinerten Mess- und Analysemethoden mit ihrer Fähigkeit, auch noch das winzigste Nanopartikel aufzuspüren, helfen uns dabei, frühzeitig in Hysterie ob bevorstehender weiterer Lebensmittelskandale zu verfallen. Schockstarre ist hierbei übrigens kein probates Verhaltensmuster, weil sie die weitere Eskalation der Panik fast unmöglich macht.
In diesem Zusammenhang spielt übrigens generell der Konsum der richtigen Medien eine bedeutsame Rolle. Objektiv und sachlich berichtende Tageszeitungen beispielsweise gilt es auf jeden Fall zu meiden, wenn man an der kollektiven Hysterie teilhaben möchte. Gottlob treibt die Yellowpress ja nahezu jeden Tag mindestens eine Sau durchs Dorf, auf deren Rücken man genüsslich zwischen Weltuntergang, dem Geißel der Menschheit „Krebs“ oder anderen mundgerechten Epidemien vorbeidefilieren kann, um alsbald seine Wahl zu treffen, wovor man sich nun am liebsten ekeln oder fürchten soll.
Die Variante „eingebildeter Kranker“ hat noch einen unleugbaren weiteren Vorteil: Mit wachsendem Alter fallen einem die Tatbestände: zwickende, schmerzende Gelenke, drückender Brustkorb, zitternde Hände, quietschende Ohren fast tagtäglich wie fast von selbst in so wachsender Anzahl zu, dass man nur noch das medizinische Wörterbuch als Dauerlektüre daneben zu halten braucht und schon hat man den schönsten Cocktail erschütternder Diagnosen parat, der einem das Leben von früh bis spät zur Hölle machen kann.
Aber gehen wir auch hier Schritt für Schritt vor: Einmal angenommen, Sie stellen eines Morgens fest, dass ihre Schläfen bei Handauflegen unablässig pochen. (Dieser Befund ist nicht weiter besorgniserregend; er besagt nur, dass ihr Herz schlägt. Mit anderen Worten ihre Vitalfunktionen scheinen halbwegs zu funktionieren!). Nun gibt es Zeitgenossen, die in einem solchen Fall den Rat erteilen, die schmerzende Stelle nicht weiter zu berühren. Der Schmerz lasse dann von ganz alleine nach . . . Dieser Rat erscheint uns vorschnell und fahrlässig.
Es gibt nämlich kaum ein Körperteil, das bei Berührung, Druck oder verstärkter Beachtung keine Anzeichen von Veränderung, Erwärmung, Jucken oder Schmerz zeigt, womit der erste Einstieg in die Sorgenspirale „Bin ich krank? Ja/nein? Natürlich!“ gelungen zu sein scheint. Nun heißt es: am Ball (bzw. am Organ) bleiben. Ablenkung vom schmerzhaften Gegenstand gilt es unbedingt zu vermeiden. Die volle Aufmerksamkeit soll einzig und allein der schmerzenden Region gelten. Offene Wunden lassen sich beispielsweise gut und gern in ihrer peinigenden Wirkung durch Jod- oder Säuregaben verstärken. Erst wenn der Schmerz vom beiläufigen Luxusereignis zum dauerhaften Belastungserlebnis geworden ist, darf sich die Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden. Sie wird dann mit Gewissheit zu kaum einer anderen Wahrnehmung in der Lage sein.
Aber zurück zu Woody Allen: Er und andere Promis wie Harald Schmidt machen bekanntlich kein Hehl daraus, Hypochonder zu sein. So eröffnen uns diese im öffentlichen Leben stehenden VIP-Vertreter auf einfache Art und Weise die Möglichkeit, an Ihrem Missgeschick teilzuhaben. Für billiges Geld werden ja die einschlägigen Illustrierten nahezu allenthalben feil geboten, die die Sternchen und Jetset-Größen der Welt auf Schritt und Tritt verfolgen, um Ihrem schillernden Leben im Scheinwerferlicht jeden Tag eine neue Kuriosität zu entreißen. Dazu gehören natürlich auch viele wahre, halbwahre und erfundene Krankengeschichten aus dem Leben der Promis. Machen Sie diese aufgebauschten Schilderungen menschlicher Bedrängnis doch einfach zur täglichen Lektüre und überprüfen Sie in regelmäßigen Abständen Ihren Gesundheitszustand auf vergleichbare Anzeichen von Promi-Problemen. Sie werden sehen, Sie haben in Kürze nicht weniger zu bieten als unsere Fernseh- und Kino-Stars. Dank unserer wissenschaftlich nachgewiesenen Fähigkeit zu Empathie und Einfühlungsvermögen werden Sie sich am schnellsten und besten in das Leiden eines von Ihnen bewunderten Schauspielers oder Musikers hineinversetzen können, der Ihr absolutes, tief empfundenes Mitleid mehr als verdient hat. Authentisch ist Ihre Anteilnahme natürlich besonders dann, wenn Sie seine Schmerzen, seine Qualen und seine Drangsalen am eigenen Körper verspüren. (Das hilft Ihrem Star zwar keinen Deut weiter, tut hier aber nichts zur Sache). Sie allein stehen hier im Fokus des Interesses – und niemand fragt, wenn Sie mit einer ausgewachsenen, bloß eingebildeten Neurose vor dem Therapeuten stehen, wer Ihnen dieses Verhängnis leihweise zur Verfügung gestellt hat. Was zählt, ist allein der Erfolg Ihres Gebrechens, das glaubhaft, dauerhaft und schwer heilbar sein sollte.
Übrigens: Psychische Phänomene haben hier den unleugbaren Vorteil, schwerer nachweisbar zu sein als physische Einschränkungen und Belastungen. Damit andererseits lässt sich ihr Vorhandensein auch schwerer widerlegen. Ein nicht unwichtiger Aspekt, der Ihnen die Beschäftigung mit psychischen Anomalien wirklich nahe legen sollte.
Ein gerüttelt Maß an Eitelkeit ist in solchen Fällen übrigens keineswegs schädlich. Im Gegenteil: Wer eitel ist, fühlt sich von der Krankheit nicht nur belästigt, sondern richtig gehend beleidigt. Warum, wird sich der Eitle fragen, hat diese widerliche Erkrankung ausgerechnet mich heimgesucht. Sein sinnloses Fragen führt nicht selten schnell und zielgerichtet in Stadien tiefer Verzweiflung und Niedergeschlagenheit – gleichhin, ob es sich hier um ein gottgläubiges oder heidnisches Exemplar der Spezies Mensch handeln mag oder nicht. Der Eitle fühlt sich höchst ungern belästigt, egal ob mit oder ohne transzendenten Beistand.
IX) Zum Glück gibt es (da noch) die gelernte Angst
Das höchste Glück des Menschen ist die Befreiung von der Furcht. - Walther Rathenau
Wissenschaftlich exakter spricht man von er-lernter statt von ge-lernter Angst. Das soll uns, die wir wacker auf Unglückssuche sind, natürlich keineswegs abschrecken. Wer sich also eines weitgehend angst- und sorgenfreien Lebens erfreut, muss die Hoffnung nicht fahren lassen. Auch für ihn hält das Schicksal eine (oder mehrere) Chance(n) bereit, irgendwann einmal unter Furcht und Angst leiden zu dürfen. Letztere sind bekanntlich die stärksten Unglück auslösenden Gefühle, die wir kennen. Wer sich in diesen Gefilden richtig einrichtet, kann zu einem wahren Unglücksheroen heranreifen . . . Angst lässt sich nämlich problemlos antrainieren. Viele Studien haben das bewiesen.
Eine Arbeit von Andreas Olsson von der New Yorker Columbia-Universität belegt beispielsweise, dass es keinen Unterschied macht, ob ein Mensch vor etwas selbst Angst hat oder nur einen Menschen in einer angstvollen Situation beobachtet. Voraussetzung dafür ist neben dem Erlernen der Angst die menschliche Neigung zur Einfühlung oder Empathie.
Die Forscher beobachteten die Hirnaktivität von Probanden, während diese sich Videos von Darstellern anschauten, die in Angst vor elektrischen Stromstößen versetzt wurden. Die Aktivität des Gehirns der Probanden zeigte dabei ein ähnliches Muster, wie wenn sie selbst vor Stromstößen Angst hatten. Triebkraft hierfür sei dabei, so die Wissenschaftler, nicht nur das Mitgefühl dem anderen gegenüber, sondern auch der mögliche Nutzen für das eigene Überleben: Nur wer gelernt hat, auch vor bisher noch nicht selbst erlebten gefährlichen Situationen Angst zu haben, kann sich wirkungsvoll gegen Gefahren schützen.
Es ist also nicht nur unter Aspekten der „Unglücksforschung“ sinnvoll, Angst zu kultivieren. Angst hilft auch angstvolles Leben genüsslich zu verlängern, indem der von Haus aus ängstliche Mensch um lebensgefährliche Situationen stets einen großen Bogen macht.
Und wovor kann man als ängstlich geborener Mensch nicht alles Angst haben? Vor dem Zuspätkommen, vor dem Weltuntergang, vor der Enge, vor der Weite, vor Schlangen, Hunden, Mäusen und Spinnen, vor dem jüngsten Gericht, seiner Ehefrau und vor dem Ende – kurzum es gibt eigentlich nichts, was sich für den Einzelnen grundsätzlich und a priori als ungeeignet erweist, es mit angstvollen Gefühlen zu besetzen. Die Vielzahl der heute auch im Alltag gängigen Phobien spricht hier eine beredte Sprache. Das einschlägige Lexikon listet über 80 verschiedene Formen davon auf, wobei viele Phobien wie beispielsweise Tierphobien, lediglich unter einem Sammelbegriff auftauchen. Die tatsächliche Zahl ist also weit größer!
Phonetisch hebt sich die so genannte Avio-Phobie (Flugangst) sehr wohltuend von anderen Zungenbrechern ab wie Contreltophobie (Angst vor sexuellem Missbrauch) oder Molysmophobie (Angst vor Schmutz und Ansteckung). Während sich die Halitophobie (Angst vor Mundgeruch) bei Menschen, die unter wochenlangem Zahnpasta-Entzug zu leiden hatten, durchaus nachvollziehen lässt, erfüllt uns die moderne Nomophobie (Angst ohne Mobiltelefonkontakt zu sein) doch mit einer gewissen Sprachlosigkeit. Etymologisch (und inhaltlich) ist freilich die Phobophobie (Angst vor der Angst) am reizvollsten. Sie eignet sich ganz nebenbei auch wunderbar für andere Lebenssituationen wie das „Blau-Machen“, will man zum Beispiel die häufig zitierten Krankmeldungen wie Erkältung, Migräne, Magen-Darm-Verstimmung oder Herzkreislaufprobleme einmal ausnahmsweise meiden.
Im Übrigen bewegt sich die „Angst vor der Angst“ wie selbstverständlich bereits auf einer Art Meta-Ebene, der nicht mehr ohne weiteres therapeutisch, sondern bestenfalls tiefen-philosophisch beizukommen ist. Da in der Regel weder Therapeut noch Klient über das notwendige tiefen-philosophische Mindest-Instrumentarium verfügen, nistet sich die Phobophobie bei Betroffenen häufig als eine der hartnäckigsten und lang andauerndsten Formen der Angst ein. Mit dem Ergebnis, dass auch die Phobophobie selbst zu einer Phobie avancieren kann. Diese zwar sehr seltene, aber in jüngster Zeit immer häufiger zu beobachtende Phobophobophobie zeichnet sich durch interessante Nebeneffekte aus: So wird ihr eine fast paranormal anmutende Fernwirkung nachgesagt, die sich vor allem für Probanden eignet, die Probleme beim gesunden Erleben von handfesten angstauslösenden Ereignissen haben, wie es Verkehrsunfälle, Flugzeugabstürze oder Schiffshavarien sind. Das in der Literatur noch selten beschriebene Phänomen der Angst vor der Angst vor der Angst besitzt mithin die einzigartige abstrakte Dimension, vor etwas Angst haben zu können, das man weder aus Erfahrung noch aus Anschauung kennt, das aber gleichwohl über nahezu unendliche Distanzen wirkt und mindestens so real ist wie virtuelles Geld.
Da wir ohnehin dazu übergehen, uns vermehrt in virtuellen Welten zu bewegen, wird dem Phobophobophobiker alsbald die Anerkennung seiner ebenfalls künstlichen Zeitgenossen gewiss sein. Er fühlt sich ergo in seiner Unverstandenheit verstandener als in seiner vormaligen Verstandenheit, darf hierbei freilich nicht überdrehen, da ihm sonst das durch die psychische Einschränkung entstandene Unglücksgefühl geradezu beiläufig abhanden kommen könnte.
Der Vorteil einer vergleichsweise artifiziellen Erkrankung wie der Phobo-Phobophobie liegt auf der Hand: Sie lässt sich nahezu beliebig ins Monströse steigern, indem man dem Wort-Ungetüm weitere Vorsilben (Phobo-) in unbegrenzter Zahl – sinnvollerweise freilich sukzessive und keinesfalls überbordend - voransetzen kann. So ist man seinem Therapeuten auf simple, dennoch logisch nicht widerlegbare Art und Weise immer einen Schritt voraus. Und die Angstspirale kann ungehemmt Ihren freien Lauf nehmen.
WARnung! Mit Angst ist nicht zu spaßen! Wer die schnelle und vorübergehende Unglückserfrischung sucht, bediene sich bitte anderer unverdächtigerer Methoden. Angst führt schnell zur Chronifizierung und zieht oft schwere Depressionen nach sich, die einer stationären Behandlung bedürfen. Hier hört der Ulk – auch für Unglücksspezialisten doch entschieden auf.
Andererseits, wir Deutsche sind ja offenbar die Weltmeister im Angsthasen-Dasein. Wie anders ließe es sich sonst erklären, dass man vor allem in Nordamerika von der so genannten „German Angst“ spricht und damit Phänomene meint wie die Angst der Deutschen vor Vogelgrippe (die vorwiegend in Asien grassierte), diffuse Weltuntergangspanik, Furcht vor Google Street View und andere völlig aus der Luft gegriffene Dinge mehr. . .
X) Der Mitmensch, dein ein und alles
Das größte Übel, das wir unseren Mitmenschen antun können, ist nicht, sie zu hassen, sondern ihnen gegenüber gleichgültig zu sein.
George Bernard Shaw
Das beste Mittel sich ins Unglück zu stürzen, ist natürlich, sich unglücklich zu verlieben. Mal weil die Angebetete nicht will, mal weil die Umstände das Liebespaar zu getrennter Lebensweise zwingen, mal weil das Umfeld etwas gegen die Beziehung hat. (Diese schon überkommen geglaubte Einmischung von Eltern, Geschwistern, Verwandten in die Familienplanung hat uns leider durch unsere türkischen Mitbürger wieder unversehens „eingeholt“). Nachteil: Man hat - von den letzten beiden Möglichkeiten abgesehen – wenig Einfluss auf die Gestaltung der Umstände. Oder haben Sie sich schon einmal vorsätzlich in ihr Gegenüber verliebt, um hinterher unter der nicht erwiderten Liebe zu leiden? Diese Übung allein, sich absichtsvoll verlieben zu wollen, dürfte tagein, tagaus exerziert, schon für sattsam Unmut sorgen. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass es nahezu unmöglich ist, sich auf Knopfdruck zu verlieben. Es kommen hier Umstände ins Spiel, die wir (leider?) nur wenig steuern und beeinflussen können. Streng genommen, verliebe ich mich nicht (aktiv), sondern werde (von wem auch immer – es ist nicht zwangsläufig das Objekt der Liebe) in den Stand des Verliebtseins versetzt. Ich kann mich zwar (weitgehend erfolglos) gegen das Verliebtsein sträuben, aktiv verlieben kann ich mich hingegen nicht. Immer unterstellt, wir reden hier von „Otto Normalverbraucher“ und nicht von einem/r für Amors Dienste besonders begabte Person, die sich kraft Meditation, Hypnose oder anderer Tricks bewusst in den Zustand des Verliebtseins versetzen kann. Solche Liebesbegabungen mag es geben. (Es gibt schließlich (fast) nichts, was es nicht gibt). Für unsere Anleitung aber ist diese zahlenmäßig eher unbedeutende Personengruppe nicht von Belang.
Wem also gar nichts Besseres einfällt, kann sich durchaus mal für einen Nachmittag im Frühjahr (oder länger) auf eine Parkbank setzen, sich die nächstbesten Passanten/innen auswählen und versuchen, sich unsterblich in sie zu verlieben, sozusagen aus dem Stand. Viel Spaß dabei: Ein Erfolg ist ungefähr so sicher wie ein Sechser im Lotto! Das Frustpotenzial liegt damit zwar annähernd bei 100 Prozent. Allein, wer will sich schon so plump und ungelenk ins Unglück stürzen? Vom Resultat her betrachtet mag einem die Vorgehensweise vielleicht gleichgültig erscheinen, Hauptsache man ist endlich wieder mal so richtig unglücklich – durch und durch unglücklich. Das aber ist ein arger Irrtum!
Es wird sich ein echtes Unglückserleben nämlich genau dann nicht in der erwarteten Ausprägung einstellen, wenn man es mit Brachialgewalt hat herbeiführen wollen. Das Gedächtnis beglückt einen dann allzu gern mit „Hintergrundrauschen“. Will sagen, es merkt sich alle Einzelheiten des Zustandekommens einer Unglückswelle, vergleicht das Erreichte mit vorherigen Ereignissen, wägt ab und verwirft am Ende Lösungen, die man nach der Holzhammer-Methode erzwungen hat. Fazit: Finger weg von der Liebelei. Wahre Unglückshelden verzichten auf diesen wenig eleganten und etwas schwerfälligen Weg der Unglücksgenese.
Viel lieber sind uns leicht zu erzielende Erfolge. Bisweilen reicht schon ein Blick in die „Tagesschau“, um einem gehörig die Laune zu verderben. Die Berliner Band „Spliff“ wusste schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: „Tagesschau, das ist das übelste Programm, das es gibt!“
Inzwischen hat sich die Nachrichtenlandschaft nicht zuletzt dank der hocherfreulichen Produktionen unserer Privatsender sogar deutlich verbreitert. Qualitätsverbesserungen freilich bleiben Fehlanzeige. Woher sollen die guten Nachrichten in einer Welt voller Verrückter auch kommen? Dies gepaart mit der vorherrschenden Haltung der Journalisten: Bad news are good news –
kann sich inzwischen jeder mit (schlechten) Nachrichten via Radio, Fernsehen und Internet rund um die Uhr „zudröhnen“. Neil Postmans Feststellung, ebenfalls aus dem letzten Jahrhundert stammend, „wir informieren uns zu Tode“, hat bislang offenbar zu keiner grundlegenden Veränderung im Medienkonsum geführt. Also lasst uns fröhlich weiter töten (und getötet werden).
Was den Umgang mit Menschen angeht, gibt es allerdings noch weit bessere Gelegenheiten, sich ins Unglück zu stürzen. In der Regel steckt unser Arbeitsleben ja voller Überraschungen, selten sind es gute. So gesehen, muss man nur regelmäßig seiner Arbeit nachgehen und wird dabei quasi kostenlos mit einem ausreichenden Quantum an Verdruss, Ärgernissen und Unzulänglichkeiten versorgt. Wozu also nachhelfen?
Es soll allerdings noch immer Arbeitsstellen geben, für die das nicht (oder zumindest nicht in dem Ausmaß) zutrifft. Hier hilft dann nur eins: Stelle wechseln oder Schicksal spielen.
Besonders „beliebt“ sind beispielsweise Mitarbeiter/innen, die sich in der Regel wenig kooperativ zeigen, ihrem Chef gegenüber aber zur Hochform auflaufen, wenn es darum geht, Fehler, Versäumnisse und Schwächen der Kollegen aufzulisten. Gute Unglückschancen genießen auch Kollegen, die stets gestresst wirken. Sie sorgen doppelt vor: einmal mit dem ständigen Vorwand des Gestresst-Seins, der irgendwann in objektiven Stress mündet, sodann mit dem Ruf, den ein stets gestresster Mitarbeiter bald unter seinen Kollegen „weg“ hat: Der arme Kerl kriegt seine Sachen einfach nicht auf die Reihe!
Weitere aussichtsreiche Stereotypen für die zuverlässige Unglückssträhne im Arbeitsalltag sind, um nur einige zu nennen:
Ewige Besserwisser
Überkritische Pseudointellektuelle
Schleimer und Kriecher
Notorische Drückeberger
Permanent Übermotivierte
Dauerhaft Schlechtgelaunte (bei ihnen entfällt allerdings der Bedarf an zusätzlichem Unglücksbeiwerk)
Chronische Tölpel
Schwarzmaler und Problematisierer
Diese Aufzählung ließe sich mit geringem Aufwand (fast beliebig) erweitern. Wobei die Frage erlaubt sein muss, ob die genannten Personen sich oder nicht vielmehr ihre Umwelt ins Unglück stürzen??
Womit ein weitere wichtige Frage aufgeworfen wäre: Umgeben S i e sich nicht nur im Arbeitsumfeld, sondern auch in ihrer Freizeit mit den richtigen Menschen? Haben S i e ausreichend schwierige Zeitgenossen in ihrem Freundeskreis? Gehen Ihnen die Bekannten und Verwandten aus ihrer unmittelbaren Umgebung auch tatsächlich so richtig auf die Nerven?
Wenn Sie auch nur eine dieser Fragen mit „nein“ beantworten müssen, ist es höchste Zeit zum Handeln. Kontaktanzeigen (im Internet) werden Ihnen helfen, die richtigen Mitmenschen zu finden. Wie aber sollten die aussehen? Hier nur eine steckbriefhafte Kurz-Charakterisierung zur Orientierung:
Das ideale Gegenüber widerspricht ihnen ständig, ohne seine Aussagen mit Argumenten zu belasten,
unterbricht sie spontan und unvorhersehbar,
fordert sie pausenlos zu nutzlosen Freizeitaktivitäten auf,
zeigt sich in jeder Hinsicht inkonsequent,
gibt sich bald aggressiv, bald anlehnungsbedürftig,
ist launisch, rücksichtslos, selbstverliebt, verwöhnt, wählerisch und schleckig,
und hat nie Zeit, wenn ihnen nach einem „Pas de deux“ ist.
Zugegeben, es ist nicht ganz einfach, jemanden zu finden, der all diese Charaktereigenschaften auf sich vereint. Geben Sie sich aber keinesfalls mit anfängerhaften Vertretern zufrieden, die nur über einen Bruchteil der Merkmale verfügen. Es wäre vergeudete Zeit . . .
Leicht lässt sich der beschriebenen Spezies Mensch übrigens auf Deutschlands Straßen begegnen, wenn hier auch nur eine der oben beschriebenen Kennzeichen besonders markant zu Tage tritt: die Rücksichtslosigkeit.
Sie müssen hierzu allerdings schon bereit sein, die eigenen vier Wände zu verlassen. Zu Hause, wo zwar bekanntlich die meisten Unfälle passieren, fällt Ihnen vielleicht die Langeweile vor die Füße. Die echten Abenteuer der Gegenwart aber tragen sich im Großstadtdschungel zu. Dort, wo der Mann noch Mann ist (und die Frau zum Mann mutiert). Im Auto beziehungsweise im Verkehr reagiert der (deutsche) Mensch offenbar all seine unverarbeiteten Komplexe ab. Da wird gedrängelt und genötigt, gehupt und gewettert, reifenquietschend die Vorfahrt genommen, bei „Spät-Gelb“ durchgebraust, links überholt, gehetzt, gerast, geflucht. Und stets erhebt der Autolenker so gern seine Hand zum Vögelchen wie der Vogel sein Zwitschern, wird der Stinkefinger ein ums andere Mal in die Höhe gereckt und das Kopfschütteln zur Lingua franca des Straßenverkehrs erklärt. Die Rate lärmiger Zusammenstöße lässt sich übrigens unschwer steigern, indem man sich auf vielbefahrenen Straßen (oder Gehwegen) mit dem Drahtesel vorwärtsbewegt. Hier lässt sich gut und gern täglich einer lebensbedrohlichen Situation um Haaresbreite entgehen oder die wortreiche Konfrontation mit autogeilen Arschlöchern finden. Der Neo-Darwinismus galt schon als ausgestorben. Doch merke: Auf Deutschlands Straßen herrscht (wieder oder immer noch) das Gesetz des Stärkeren (und die Stärkeren sind nicht die Polizei).
So gesehen kann man sich frohen Mutes über tausende von Rohlingen auf unseren Straßen, unfreundliche Verkäuferinnen und mürrische Schalterbeamten aufregen, die Deutschlands Servicewüste so einzigartig machen – und zwar von früh bis spät (bezogen auf die Dienstleister der Servicewüste wie auf das Aufregen).
Wem dies nicht „abendfüllend“ genug erscheint, dem sei hier noch ein kleiner Zusatztrick anvertraut: Als Umweltbewegter kann man sein Aufregungs-Repertoire ganz unverkrampft noch deutlich potenzieren, indem man sich über alle Umweltsünder echauffiert, die beispielsweise regelmäßig bei laufendem Motor im Auto sitzen und in die Luft starren, die Straße als ihren persönlichen Abfallkorb betrachten oder Großraumlimousinen durch die Welt kutschieren, die Parkplätze verstopfen, die Luft über Gebühr verpesten, Rohstoffe vergeuden und den Sozialneid schüren. Da die Zahl der Umweltsünder beharrlich wächst, verfügt man mit dieser Methode über eine nie versiegende Quelle innerer Grunderregung und Unruhe.
XI) Trau, schau, wem - oder: Drum prüfe, wer sich ewig bindet
Wenn ich glücklich bin, bin ich stets gut; aber wenn ich gut bin, bin ich selten glücklich.
Oscar Wilde
Leider hat die Bereitschaft zu Zweierbeziehungs-Dauerverbindungen (offenbar global) stark nachgelassen; die hohen Scheidungsraten belegen es. Im Jahr 2010 wurden rund 382.000 Ehen in Deutschland geschlossen, 187.000 geschieden. So betrachtet, liegt die Scheidungsrate bei fast 50%. Nach anderer Lesart geht jede dritte Ehe in die Brüche. Wie dem auch sei . . . (man traue nur der Statistik, die man selbst gefälscht hat): 60% der Scheidungen gehen von Frauen aus. Ungebrochen ist aber scheinbar der Glaube, den richtigen Partner nach dem fünfzehnten erfolglosen Anlauf nur noch nicht gefunden zu haben. . . Also weitersuchen! Anstatt mal darüber nachzudenken, ob die Mann-Frau-Verbindung (bzw. jede Zweierkiste und damit Mensch-Mensch-Beziehung) nicht vielleicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist, weil Mensch zwar kommunizieren will/muss, es letztlich wirklich friedvoll beziehungsweise frei von Missverständnissen aber gar nicht kann.
Kommunizieren? Friedvoll?? Wer sagt denn, dass das Ziel des Miteinander der konfliktfreie Umgang ist. Wirklich Spaß machen doch eher die Auseinandersetzungen und Streitgespräche. Sie sind das Salz in der Suppe unseres öden, alltäglichen Einerlei an Mainstream-Verständigung und ganz im Sinne unserer Lectiones infelicitates ein wahrer Born an Unglücksmotiven. Frei nach dem Witz: In der Ehe löst man die Probleme, die man alleine gar nicht hätte.
Es geht morgens schon los, wenn man nicht aufpasst (oder wahlweise auch, wenn man besonders aufpasst) – und zwar mit der non-verbalen Kommunikation: Ein falscher Gesichtsausdruck nur – in morgendlicher Lethargie ahnungslos preisgegeben – kann beim Partner einen Wasserfall an bohrenden Nachfragen auslösen:
Wieso guckst Du so?
Ich??
Wer sonst!!
Ich guck doch gar nicht . . .
Schau Dich mal im Spiegel an . . .
Ich guck doch wie immer . . .
Zum Glück guckst Du nicht immer so!! Aber in letzter Zeit . . .
Wie guck ich denn?
Irgendwie anders . . .
So vielleicht?? (verzieht Gesicht absichtlich grimassenhaft)
Und je nach Laune und Tagesform kann diese Äußerung weitere schwere Verwicklungen oder eine spontane Entspannung der Situation herbeiführen.
Besonders beliebt auch für kleine bis mittlere Händel:
Häusliche Pflichten und Notwendigkeiten: Wer putzt heute das Klo?
Der Speiseplan: Nicht schon wieder Soja . . .
Der gemeinsame Einkauf: Kannst Du heute nicht ausnahmsweise mal alleine los. . .
Die Finanzen: Schön wär‘ der Betrag ja schon – aber ohne Minus davor
Die gemeinsame Freizeitgestaltung: Im Theater waren wir doch erst vor zwei Jahren . . .
Verwandtschaft: Kommt Deine Mutter am Wochenende schon wieder?
Bekanntschaften: Die Maiers laden wir diesmal aber nicht mit ein . . .
Freunde: Wie oft hab ich Dir schon gesagt, dass sich unsere Freunde einfach nicht vertragen . . .
Wer in der oben genannten Liste (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) keine geeigneten Anknüpfungspunkte für Stimmungseintrübungen findet, kann sich vielleicht in folgende Beispiele einfühlen:
Nahezu für jedermann gibt es bestimmte Reizwörter. Ob er/sie es zugibt oder nicht: Sie bringen uns binnen Kürze auf die Palme und sorgen je nach Stimmungslage auch dafür, dass wir eine Weile dort in luftigen Höhen verweilen (dürfen). Günstig ist es in jedem Fall, zu wissen, welche Vokabeln beim Partner zu Erregung, Verstimmung, Verärgerung oder Zornausbrüchen führen. Schon deshalb, weil man die Begriffe dann bewusst meiden oder gezielt einsetzen kann. Während mir der Vorwurf „Schlaftablette“ nur ein müdes Lächeln entlockt, grenzt er für andere schon an Majestätsbeleidigung. Natürlich gibt es Begriffe aus der Gossensprache, die wir hier vorsätzlich meiden wollen: Hurensohn, Motherfucker, Wichser, Fotze oder Nutte gehören dazu.
Aber schon Arschloch – kurz Arsch – oder Zicke haben sich im allgemeinen Sprachgebrauch derart etabliert, dass wir bedenkenlos von ihnen Gebrauch machen dürfen. Sie führen zudem bei gezieltem Einsatz zu heftigsten Gegenreaktionen oder zumindest dazu, dass der Partner beleidigt schweigt oder eingeschnappt von dannen zieht. Der Konflikt ist damit nicht beigelegt, sondern lediglich vertagt. Am besten wappnet man sich vor dem nächsten Verbal-Rückschlag „Du verdammter Macho!“ mit Munition aus dem psycho-sozialen Formenkreis: „Hysterische Emanzen waren schon immer mein Fall!“ oder – „Fahr runter, Du Ziege, es schont Nerven und Teint!“
Wer es eleganter liebt, bedient sich anderer Formulierungen (Schnepfe, dumme Kuh, falsche Schlange). Die Klaviatur der Beleidigungen ist bekanntlich schier unendlich und gehört vermutlich zum reichhaltigsten sprachlichen Repertoire, über das der Mensch verfügt. Wichtig ist und bleibt, rechtzeitig herauszufinden, auf welche Signalwörter der Partner allergisch reagiert. Nur so ist ein zielgerichtetes Vorgehen überhaupt möglich. Mag sein, dass bisweilen auch ein unbeabsichtigt eingesetztes Schimpfwort überraschend zu Wutausbrüchen führt und die freundliche Stimmung urplötzlich kippen lässt. Letztlich ist es Geschmackssache, ob einen das überfallartig daherkommende oder das strategisch herbeigeführte Unglück tiefgreifender unzufriedenstellt.
Zeigt sich Ihr Partner auch bei Verwendung üblicher Reizworte und grober Beleidigungen unbewegt hartleibig und verständnisvoll, dann könnte der Einsatz von handelsüblichen Drogen die Szenerie leichthin verbessern. Schnell gelingt es mit ein, zwei Gläschen Wein (Dosis bitte nach Bedarf anpassen), dem Gesprächspartner einerseits die Zunge zu lösen, andererseits die Sinne zu vernebeln. Dann sind so genannte dialogische Endlosschleifen mühelos erreichbar:
Das hab ich nie behauptet.
Hast Du doch . . .
Dann hast Du mich falsch verstanden.
Was gibt es dabei schon falsch zu verstehen?
Eine ganz Menge, wie man sieht . . .
Dann sag doch endlich . . .
Was?
Na, was Du von dem ganzen Mist hältst?
Mist – hast Du gesagt . . .
Dann eben, ach was weiß ich . . .
So kommen wir nicht weiter . . .
Da hast Du ausnahmsweise Recht.
Lass uns von was anderem reden.
Wovon?
Keine Ahnung . . .
Wir können ja auch zur Abwechslung einfach mal schweigen . . .
Bist Du jetzt schon wieder eingeschnappt?
Wie kommst Du denn darauf?
Na, Du wirkst halt so . . .
Wie denn?
Eingeschnappt eben!
Bin ich aber nicht.
Das hab ich auch nie behauptet . . .
Nachteil an dieser etwas künstlich herbeigeführten Form der Kommunikationsstörung ist, dass der alkoholisierte Partner sie am nächsten Tag meistens wieder vergessen hat und den Abend allenfalls leicht verunsichert mit – War schön gestern – oder? kommentiert. Das bringt uns nicht wirklich weiter . . .
Es sei denn, wir setzen auf die Karte „Besserwisser“ und haken beharrlich nach:
Ich hab den Abend ganz anders in Erinnerung . . .
Wie denn??
Du warst nicht mehr ganz nüchtern und hast ziemlich wirres Zeug von Dir gegeben.
Du willst mich auf den Arm nehmen!?
Keineswegs, ich war ja nüchtern . . .
Du bist eben immer der Bessere, ich weiß schon . . . womit hab ich das verdient?
Soll ich mich jetzt für mein gutes Gedächtnis auch noch entschuldigen.
Nein, aber etwas verständnisvoller könntest Du schon sein, wenn ich mal zu tief ins Glas geschaut habe.
Mal – ist gut.
Was soll denn das schon wieder heißen . . .
Wie definierst Du: Mal?
Überhaupt nicht . . .
Dann werden wir auch heute keinen Konsens finden.
Behalt Deine schlauen Sprüche doch einfach für Dich, alter Besserwisser!
Kann es sein, dass es Dir augenblicklich an Niveau fehlt, diese Auseinandersetzung zu führen . . .
Wie bitte?
Vergiss es . . .
Immerhin hast Du mich zum Trinken animiert . . .
Das halt ich für ein Gerücht.
Du kannst mich mal . . .
Gerne – jederzeit!
Nun ist der Boden für ein abermaliges, mit Spirituosen verschöntes Tete a Tete bereitet, und der kommende Abend muss lediglich mit einem passenden Thema eröffnet werden. Besonders geeignet: Geld, Mode, Religion oder Sex:
Warum schläfst Du eigentlich nicht mehr mit mir?
Wir hatten doch erst letzte Woche Sex!
Soweit ich weiß, war es vorletzte Woche, aber egal, mir fehlt was . . .
Dann streng Dich mal etwas an. Du denkst, das geht einfach immer so . .
Rein mechanisch betrachtet, ist es tatsächlich einfach.
. . . ohne dass Du mich mal mit irgendetwas überrascht.
Jetzt bin ich aber überrascht . . .
Quatschkopf!
Findest Du Dein Gefasel etwa sexy?
Gefasel ist per se . . .
Genau das mein ich!!
Was?
Du beklagst Dich über zu wenig Sex und laberst hier einen Scheiß . . . wie soll ich da in Stimmung kommen.
Das geht auch ohne Stimmung.
Bei Dir vielleicht – rein/raus – aber nicht bei mir!
Wie wär’s mal umgekehrt . . .
Du bist ein solcher Volltrottel, gibt es kein Thema, bei dem du ernst bleibst . . .
Oh, ernst!? – ja, ich vergaß . . .
Niemand weiß es. Wir aber vermuten, dass es an diesem neckischen Abend mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu einem Austausch von Körperflüssigkeiten gekommen ist. Womit das Ziel des Unglück suchenden Sexhungrigen handstreichartig erreicht wäre: No Sex! No Sex! Und das für länger . . .
XII) Zum Schluss, die schlechte Nachricht (statt eines Schlusswortes)
Erst im Unglück weiß man wahrhaft, wer man ist. i - Stefan Zweig (1881 - 1942), Schriftsteller und Übersetzer
Jetzt endlich, ganz am Ende dieses Textes, erfahren wir endlich, warum wir das Unglück anstreben, das Glück hingegen meiden sollen: Es geht um Selbsterkenntnis, einzig und allein um Selbsterkenntnis. Diesem hehren Ziel hat sich alles andere unterzuordnen. Weshalb möglicherweise erklärt wäre, was Nietzsche wie folgt zum Ausdruck bringt:
Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer tut das.
- Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), Philosoph
Könnte es vielleicht sein, dass Philosophen bisweilen Bullshit von sich geben? Oder stammt das Zitat nur aus Nietzsches „umnachteter Phase“? Oder haben wir nur wieder mal etwas grundlegend falsch verstanden? Nein, rassistisch war das Zitat mit Sicherheit nicht gemeint. Ganz sicher nicht. Erst, wer die wahre Würde des Unglücks erkannt hat (siehe Stefan Zweig), weiß die Haltung der Engländer (nach Nietzsche) richtig einzuordnen. In diesen Kontext gilt es selbstredend auch das Zitat eines Briten zu stellen:
Wenn ich mit intellektuellen Freunden spreche, festigt sich in mir die Überzeugung, vollkommenes Glück sei ein unerreichbarer Wunschtraum. Spreche ich dagegen mit meinem Gärtner, bin ich vom Gegenteil überzeugt.
- Bertrand Russell (1872 - 1970), Schriftsteller
Heißt das also, dass der Geistreiche bessere Chancen hat, unglücklich zu sein als der Dumme? Das mag ja zutreffen – aber eine zuverlässige Gewähr gibt es auch für Geistreiche nicht. Außerdem wäre es wirklich sehr praktisch für die Dummen . . .
Bleibt festzuhalten: Wir können das Unglück tatsächlich nicht immer zielgerichtet herbeiführen genau so wenig wie seinen positiv besetzten Counterpart – mit anderen Worten: Man ist eben nur sehr bedingt seines Glücks wie seines Unglücks Schmied. (Und trotzdem haben wir Gelegenheiten en masse, wie wir gesehen haben, in jene berühmten Fettnäpfchen zu treten, die uns das Leben tagtäglich bereithält).
Vielleicht ist es ja auch einfach nur so, wie Eugen Roth beschreibt:
Ein Mensch schaut in die Zeit zurück und sieht: Sein Unglück war sein Glück. - Eugen Roth (1895 - 1976), Lyriker und Dichter
Oder hat am Ende doch Ingrid Bergmann Recht, wenn sie sagt:
Die meisten Menschen sind unglücklich, weil sie, wenn sie glücklich sind, noch glücklicher werden wollen.
- Ingrid Bergmann (1915 - 1982), Schauspielerin
Vielleicht kommen die vielen Missverständnisse um Glück und Unglück auch nur daher, dass wir etwas Falsches mit diesen Begriffen verbinden. Abschließend deshalb ein kleiner, erhellender Exkurs in die Etymologie der Vokabel:
Die Vorläufer des Glücksbegriffs in der deutschen Sprache sind erst relativ spät bezeugt. Im Mittelhochdeutschen, um 1160, taucht das Wort 'g(e)lücke' auf, das wohl auf das altniederfränkische 'gilukki' und das mittelniederländisch '(ghe)lucke' zurückgeht. Auch im Mittelniederdeutschen findet sich das Wort 'gelucke'.
'(ghe)lucke' ist die Wurzel für das englische 'luck' und knüpft an das gotisch angelsächsische 'lukan', das altnordisch altfriesische 'luka', das angelsächsische 'lucan' und das althochdeutsche 'luhhan', das die Wurzel auch für den deutschen Begriff 'Luke' bildet. Von hier aus wurde auch versucht, die etymologische Wortbedeutung von Glück zu bestimmen, als die "Art, wie etwas schließt, endigt, ausläuft".
'G(e)lücke' meint den Beschluss, die Festsetzung, die Bestimmung und war zunächst eher juristisch gemeint. Im Laufe der Entwicklung wendete der Begriff sich ins Positive im Sinne von "was gut ausläuft, sich gut trifft" und bekam vom Altfranzösischen 'déstinée' einen schicksalhaften Sinn.
So war mit Glück ursprünglich ein positives Schicksal gemeint. Die weiteren heutigen Wortbedeutungen, vor allem Glück im Sinne von positivem Zufall, sind erst viel später dazugekommen.
(zitiert nach http://www.gluecksarchiv.de/inhalt/etymologie.htm)
Merkwürdig ist das schon, dass unser heutiges Glück mit der Luke zu tun haben soll, durch die es je und je gelugt haben mag. Es ist eben ein flüchtiges, kostbares und höchst fragiles Gut, dieses Glück. Robert Frost hat es in kaum zu übertreffender Form charakterisiert:
Glück gleicht durch Höhe aus, was ihm an Länge fehlt.
Robert Frost (1874 – 1963), US-amerikanischer Dichter
Deshalb zum (fröhlichen) Geleit noch ein Satz von Sokrates, dem wir uns vorbehaltlos anschließen.
Bedenke, dass die menschlichen Verhältnisse insgesamt unbeständig sind, dann wirst Du im Glück nicht zu fröhlich und im Unglück nicht zu traurig sein. - Sokrates (469 - 399 v. Chr.), Philosoph
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