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Shalom Israel

  • Writer: Annette Rümmele
    Annette Rümmele
  • Feb 22
  • 7 min read

Die Autorin Annette Rümmele 2001
Am Strand von Tel Aviv

Dies ist der zweite Teil meiner Erzählung „Shalom Israel“, die unter dem Eindruck einer Reise von uns nach Tel Aviv und Jerusalem im Jahr 2001 geschrieben wurde. Der erste Teil handelt von meinen Beobachtungen, die ich in Tel Aviv als Touristin allein gesammelt habe und deren Auswirkung auf unser Befinden in dieser Region. Die gesamte Geschichte kann in meinem Buch „Die Poesie der Gestalt – geboren mit zarter Haut“ nachgelesen werden.


Sie ist angesichts der weiteren Eskalation im Nahen Osten auch heute interessant.









Shalom Israel


Jerusalem


Nach zwei Tagen Regen erholt sich das Wetter und wir starten unseren Ausflug nach Jerusalem, hebräisch der Ort des Friedens. Die Reise ist unkompliziert. Von Tel Aviv aus schlängelt sich alle viertel Stunde ein Bus hinauf in die judäischen Berge. Wir fahren mit einem Linienbus. Für die mitreisenden Israelis ist dies Alltag. Sie unterhalten sich, lesen oder dösen. Wir fühlen uns nicht wohl. Neben uns im Bus sitzt ein Soldat, der lässig die Morgenzeitung studiert. Sein Gewehr hat er achtlos in die Gepäckablage gesteckt, so dass die Mündung bedrohlich in unsere Richtung zeigt. Es wird sich schon kein Schuss lösen oder irgendeiner einen Streit mit einem anderen beginnen. Konstantin und ich sind angespannt, beobachten, sprechen nicht viel.


Etwas außerhalb von Jerusalem endet die Fahrt. Wir nehmen ein Taxi in die Altstadt. Auch dieser Taxifahrer plaudert unablässig in erstaunlich gutem Deutsch. Er verstehe die Touristen nicht, es könne ihnen doch nichts passieren. Warum stornieren sie ihre gebuchten Reisen. Wir bekommen aber keine befriedigende Antwort auf die Frage, was denn eigentlich im letzten Herbst passiert sei. Uns ist nur bekannt, dass die Regierung vor kurzem gewechselt hat und seit einigen Wochen der ultrarechte Ariel Sharon regiert. Seither nimmt die Gewalt im Land wieder zu. Vermummte Fundamentalisten demonstrieren und bezeichnen Sharon als Mörder. Es geht doch um den Kampf der Eiferer auf beiden Seiten. Der mühsam erarbeitete Friedensbeginn im Nahen Osten wird wieder auf die Probe gestellt. Wir können zu allen möglichen Themen Fragen stellen, politisch äußern sich zumindest die Taxifahrer nicht gerne. Am Jaffa Gate steigen wir aus. Wir haben den Taxifahrer noch nicht bezahlt, als uns bereits einige schreiende Führer umringen. "Grabeskirche? Du, deutsch? Ich kann dich führen!" Fast sofort geraten wir in das Gassengewirr der Altstadt. Konstantin zückt immer wieder seinen Stadtplan, um sich zurecht zu finden. Doch dann stürzen sich weitere Führer auf uns, in der Hoffnung an uns ein paar Schekel zu verdienen. Wir werden durch den Bazar getrieben, verfolgt von zornigen Führern und umzingelt von Händlern, die uns ihre bunten Waren laut und aggressiv anpreisen. "Half price! Come in!" Sie stellen sich uns in den Weg, zupfen uns am Ärmel. Konstantin wird zunehmend nervöser. Es ist unmöglich, etwas in Ruhe zu betrachten.


In keiner Stadt der Welt begegnen uns drei Weltreligionen auf engstem Raum. Der Große Tempel der Juden, die Wirkungsstätte Jesu, der Felsendom der Muslime. Im christlichen Viertel ist es ruhiger. Vom Turm der Erlöserkirche hat man einen herrlichen Rundblick über die Stadt. Es ist noch Vormittag, das Wetter wieder angenehm mild und das Licht zauberhaft. Wir genießen die Sicht und die Ruhe. Nicht weit von der Erlöserkirche steht die Grabeskirche. Ergriffen angesichts ihrer Bedeutung treten wir ein, lassen uns nicht von den Händlern vor der Tür beeindrucken, die diesmal mit schweren Holzkreuzen feilschen, die der bedürftige Tourist für teure Schekel den Leidensweg Christi entlang tragen darf. Die Grabeskirche ist erstaunlich leer. Das Heilige Grab wird von einem Orthodoxen bewacht, der sich, mit dem Schlaf kämpfend, am Weihwasserbecken festhält. Er wirkt eher komisch als heilig. In seinem streng schwarzen Habit unterscheidet er sich kaum von einem orthodoxen Juden. Wo sind die Pilger, die gläubigen Christen, die hier normalerweise Schlange stehen? Für unsere eigene Andacht ist die Stille ein glücklicher Umstand. Allein am Grab des Herrn. Ich zünde eine Kerze an, bete hilflos: "Hilf uns doch bitte!" Meine Gefühle sind nicht zu sortieren. Sinnlose Tränen rinnen über mein Gesicht.


Getrieben durch den nächsten Bazar schlagen wir uns bis zur Klagemauer durch. Nach all den aufdringlichen, einsamen Händlern und Führern ist mir auch nach Klagen. Aber zuerst wieder Taschenkontrolle von schwer bewaffneten Soldaten. Wir werden durchsucht und kontrolliert wie am Flughafen beim Personencheck. Es muss hier sehr viel passiert sein, wenn diese strengen Sicherheitskontrollen gerechtfertigt sein sollen. Erschöpft schauen wir den orthodoxen Juden beim Klagen zu. Es hat etwas Beruhigendes, wie sie ihre Oberkörper rhythmisch Richtung Klagemauer wiegen und dabei Psalmen aus dem Talmud ausstoßen. Wenn sich eine Klagegruppe findet, schwellen die Klagen auf und ab, laut und leise, hoch und tief. Die Männer sehen aus, wie ich mir als Kind Abraham beim Lesen der Thora vorgestellt hatte. Schwarze Kleidung, graue Bärte, schwarze Hüte und vorne lange, meist graue Schillerlocken, die das Gesicht zusammen mit dem Bart vollständig mit Haar umrahmen. Männer und Frauen klagen streng getrennt. Wir beobachten eine geraume Zeit die Szenerie. Wie tief müssen Glaube oder Angst verwurzelt sein, wenn archaische Rituale so öffentlich zur Schau gestellt werden? Erstaunt stelle ich fest, dass ich die Klagen der Juden harmonischer und tröstender finde als die hektischen "Vater unser" einer knienden Pilgergruppe am Berg Golgatha, die ich in der Grabeskirche beobachtet hatte. Diese Gruppe aus Schwestern und "Zivilisten" rutschte auf Knien zum Kreuz der Kreuze, laut und schnell betend durch die halbe Grabeskirche. Ich empfand keinerlei Andacht weder beim Anblick des Gekreuzigten noch bei den rhythmisch ausgestoßenen Gebetsfetzen. Sie beten auf Knien, werfen sich nieder, flehen um Gnade und Erlösung. Die Moslems, die sich aus denselben Gründen zyklisch gen Mekka werfen, konnten wir nicht besuchen, denn der Felsendom und die so gerühmte Al-Aqsa-Moschee sind seit einem halben Jahr streng abgeriegelt. Der Aufprall der Religionen ist überall zu spüren.


Unser nächstes Ziel sollte das Grab Davids sein. Wir sind bereits müde, hungrig und voller Eindrücke. Aber es gibt keine Pause. Kaum tauchen wir wieder in die uralten Gässchen dieser verwinkelten Stadt ein, werden wir erneut verfolgt von aufgeregten Menschen, die sich angesichts der leeren Straßen, auf uns stürzen. Die Lage erscheint mir noch aggressiver. Jeder sieht uns an, dass wir Touristen sind, nahezu die einzigen, die führerlos durch Jerusalem streifen. Konstantin wagt noch einmal einen Blick in den Stadtplan. Fatal, denn diesmal werden wir gleich von drei Männern angefallen, die uns weiterhelfen wollen. Sie lassen sich schwer abschütteln. Einer ist richtig beleidigt, ein zweiter belustigt und der dritte aggressiv. Er packt Konstantin am Ärmel und schüttelt ihn. Ich befürchte bereits eine Auseinandersetzung. Schweigend steigen wir zum Davids Tor.


Plötzlich rennt ein Mann aufgeregt hinter Konstantin her. Konstantin ist blutrot im Gesicht, schreit mich an ich solle zahlen, ich sei wohl auf den Kopf gefallen? Die Stimmung entlädt sich urplötzlich. Ich verstehe nichts. Offensichtlich soll man hier eine Spende in den Opferstock stecken, freiwillig statt Eintritt. Konstantin hat einen Papierhut auf, was ich trotz unserer Anspannung fast komisch finde. Er verschwindet. Ich bin für den Moment froh, ihn los zu sein. Kein Gefühl am Grab Davids. Nichts. Wie tot, leer, ausgebrannt. Ich verschnaufe und beobachte einige Juden in der Vorhalle der Grabstätte beim Gebet. Sie neigen den Körper wie die Männer an der Klagemauer. Konstantin taucht wieder auf. Nervös nestelt er an dem Papierhut. Er will ihn offensichtlich wieder loswerden, rennt weiter. Wir haben keinerlei Absprache mehr. Als ich ihn etwas später wieder finde, beißt er in ein trockenes Brot vom Frühstück und schaut unglücklich in die Judäischen Berge. Ich wage nichts mehr zu sagen. Mein Herz klopft bis zum Hals. Was nun? Wir schleppen uns nach einer kurzen Pause weiter durch das moslemische Viertel zum Ölberg.


Stundenlang hatten wir uns von den Juden zu den Christen zu den Moslems treiben lassen. Ruhelos, fast ohne Rast. Nun sitzen wir erschöpft am Ölberg, einem Ort der Stille und des Friedens. Uralte Gräber. Alle warten auf die Erlösung. Wir setzen uns auf einen Stein. Hier kann ich freier atmen. Die Behausungen der Toten ähneln den entfernt liegenden Häusern der Lebenden. Die Umrisse verschwimmen im Dunst. Konstantin wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er tut mir leid - es geht ihm nicht gut. Ich kann ihm nicht helfen. Wir haben nicht einmal Wasser oder einen Apfel in unserem Rucksack. Vor uns liegt der Leidensweg Jesu, den auch wir zurückgehen müssen. Unser Kreuz ist Hunger, Enttäuschung und unser gnadenloses Schweigen. Es dehnt sich aus zu einer schweren Last, die getragen werden muss vom Ölberg bis zur Grabeskirche. Wir müssen zurück.



Abschied von Tel Aviv


Wir hätten etwas Heilendes gebraucht, etwas ganz für uns, uns Einhüllendes. Stattdessen besuchen wir einen Ort der Gewalt, getränkt von Jahrtausende altem Blut. Durchsickert vom Leid der Frauen und Krieger. Die friedliche Sonne und der luftige Frühlingswind können dies nicht wettmachen. Wer kann das? Wir spüren militant die Grenzen des Landes und etwas abgeschwächt unsere Eigenen. Plötzlich sind wir stumm. Wir haben uns nichts zu sagen. Es gibt nichts zu sagen. Jeder Versuch ist eine Heuchelei und endet in einer fadenscheinigen Debatte, ob das Essen zu teuer oder die Bar zu laut war. Darum geht es nicht - wir haben schon mit Hochgenuss in teuren Restaurants in Frankreich getafelt, lachend, Rotwein trinkend. Getanzt in lauten, verrauchten Bars, kein Problem. Nur hier nicht. Wir liegen schweigend im Bett, Konstantin mit Ohrstöpseln. Ich habe die Arme unter dem Kopf verschränkt und bin hellwach.


Sabbath - überall in Tel Aviv und im ganzen Land ist es am Freitag nach Sonnenuntergang totenstill. Da regt sich nichts. Nur ein paar wenige Lokale in der Sheinkin Straße haben geöffnet. Zum Strand hin wird es lebhafter. Wir wundern uns sehr, machen ein wenig mit, aber wirklich anstecken lassen wir uns nicht. In einem Pub treffen wir drei sympathische Studenten. Sie sind überzeugt von ihrem Land, weltoffen, freuen sich, dass wir zu Besuch sind. Die drei verstricken uns in ein Gespräch. Ihr Humor lässt uns unsere gedrückte Stimmung für den Moment vergessen: "Was will Israel denn nach Deutschland exportieren? Falafel vielleicht?" Wir lachen, die drei wollen sich amüsieren. Es ist Freitagabend. Wir bleiben trotzdem allein. Unsere innere Stimmung ist zum Zerreißen gespannt. Da hilft auch das Bier nicht, im Gegenteil. Wollte uns die Bedienung etwa bescheißen? Sie gibt uns viel zu wenig Geld zurück. Konstantin ist empört, wittert überall Feinde und Probleme. Ich beschwichtige, wie stets auf dieser Reise, verdränge dabei vollständig meine eigene Angst.


Etwas Heilsames hätten wir gebraucht. Wir haben nichts Heilendes gefunden, nur offene Wunden. Dieses Land spiegelt uns plötzlich unser eigenes Schlachtfeld. Was haben wir durchgemacht, uns angetan? Niemand ist schuld oder unschuldig. Wie hier in Israel. Eine uralte Verquickung von Gegensätzen, von gewalttätigen Aktionen und Reaktionen. Angriff und Verteidigung. Welcher Gott ist gütig? Seiner oder meiner? Der zürnende Gott, in seiner trotzigen Angriffslust oder der Gekreuzigte, der auf sich nehmende, leidende Gott? Es gibt keine Entscheidung. Wir schweigen auch beim letzten Frühstück - froh zurückzufliegen.


Shalom Israel!



Grabeskirche und Al Asqa Moschee





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