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Fünfmal Finales - Kurzgeschichte(n)

  • Writer: Stefan J. Rümmele
    Stefan J. Rümmele
  • Apr 29
  • 8 min read
Foto: Annette Rümmele
Foto: Annette Rümmele

(1) Letzter Akt

Leonardo war Bühnenmagier – ein Mann, der das Publikum mit raffinierten Tricks und einem charmanten Lächeln zu verzaubern wusste. An diesem Abend stand er wie so oft vor einem großen Auditorium, dem ausverkauften Stadttheater von Seysdrum, und zeigte seine viel bewunderten, grandiosen Zaubertricks. Niemand ahnte, dass dies der Moment sein würde, in dem sich das Schicksal gegen ihn wenden sollte.

Mit bebender Stimme, ausladenden Gesten und einem nicht zu übersehenden Augenzwinkern kündigte er an, sich selbst in Luft auflösen zu wollen. Diesen nicht ungefährlichen Trick hatte er bislang nur bei wenigen Auftritten zelebriert. Als Leonardo sich anschickte, seinen Körper mit einem großen schwarzen Tuch zu umhüllen, passierte das Unfassbare: Ausgelöst durch einen Defekt in der Bühnentechnik sauste der Eiserne Vorhang nieder, traf den Magier wie ein Fallbeil von oben an der Schulter und streckte den armen Mann zu Boden.

Inmitten des Chaos, während der noch eben aufbrausende Applaus der Zuschauer in ein entsetztes Raunen und verzweifelte Schreie überging, lag Leonardo bewegungslos auf der Bühne und schrie um Hilfe. Doch schon im nächsten Augenblick verirrte sich ein süßliches Lächeln in seinen Blick, und niemand im Publikum wusste für einen kurzen Moment, ob dies Teil einer teuflischen Inszenierung oder ein tragischer Unfall war, was sich vor ihren Augen abspielte. Denn mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen flüsterte Leonardo so leise, dass es kaum zu vernehmen war: „Ich geh ab – aber der Kaffee bleibt heiß.“

Für einen Moment schien es, als würde die Zeit stillstehen. Fassungslos und zugleich berührt, lauschten die Zuschauer diesem grotesk anmutenden Kommentar und hielten den Atem an – für eine gefühlte Ewigkeit.

Sekunden später stürmten zwei Sanitäter auf die Bühne und leisteten dem Verletzten Erste Hilfe. Das Publikum konnte die Rettungsaktion nur noch erahnen, weil der Schlussvorhang gefallen war. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus erlag der berühmte Zauberer seinen Verletzungen.

Zwei Tage später erging sich das Lokalblatt von Seysdrum in einem pathetisch gehaltenen Nachruf über den Zauberkünstler:

Leonardo List, einer der größten Magier unserer Zeit, hat für immer die Augen geschlossen. Tragisch, dass sein Lebensmotto, wonach Magie nicht nur auf Tricks beruht, sondern auch auf einer gehörigen Portion Lebenswitz, sich in so brutaler Weise bewahrheiten sollte. Sein letzter Akt hat ihn ein für allemal der Bühne verwiesen, doch seine Worte werden noch lange nachhallen – als ein letzter, humorvoller Applaus des Schicksals.



(2) Wahre Unsterblichkeit?

Ferdinand Ophofen ahnte, dass es mit ihm zu Ende ging. Eingeklemmt unter einem meterdicken Baumstamm lag der renommierte Ethnologe da und wimmerte vor Schmerzen. Seine Exkursion hatte ihn in ein bislang unentdecktes Gebiet des wilden Nuya-Stammes geführt. Dort fand er die vielleicht letzten Aufzeichnungen der ausgestorbenen Ureinwohner im Gebiet der gefürchteten Swampi-Sümpfe am Rande des Regenwalds von Neugoania.

Noch vor wenigen Minuten hatte er sein Glück kaum fassen können. Er und seinem Begleiter war eine kleine Sensation gelungen. Nicht wenige seiner Kollegen hatten die Existenz dieses Stammes bis zuletzt angezweifelt. Und nun dieser Fund! Ophofens linke Hand hielt noch immer das Notizbuch umklammert, in das er eben jene Inschriften der Nuya übertragen wollte. Seine Beine waren unter einem umgestürzten Baum begraben.

Ophofens große Bestimmung – die Entschlüsselung der Textfragmente – würde wahrscheinlich unvollendet bleiben müssen. Aber vielleicht, dachte er, ist das auch ganz in Ordnung so. Die Luft war hier im Urwald zum Erdrücken feucht, warm und schwer.

Ophofens Assistent Paul kniete schwitzend neben ihm, verzweifelt nach einer Möglichkeit suchend, seinen Mentor zu befreien. Doch beide wussten, dass es vermutlich keine Rettung mehr gab.

„Paul …“, presste Ophofen schmerzverzerrt hervor. Er spürte wie sein Bewusstsein langsam entschwand. „Schreib mit, vielleicht wird das noch einmal wich...“

Paul, mit Tränen in den Augen, zückte seinen Block. „Ich höre, Professor.“

Ophofen holte tief Luft. „Mehr Licht … wäre jetzt gut.“

„Aber es ist doch so hell!“ Paul versuchte das möglichst unbeteiligt zu sagen, war aber in tiefer Sorge um den alten Professor. Der hatte Goethes letzte Worte benutzt. Ob bewusst oder nicht, das konnte er aus dessen schmerzgeplagter Stimme nicht schließen.

„Ich geh auf große Fahrt … hoffentlich mit Rückenwind.“

Ein ängstliches Lächeln huschte über Pauls Gesicht. „Sehr poetisch, Herr Professor.“ Insgeheim aber kamen ihm die Äußerungen des Höhlenforschers immer verwirrter vor.

„O und N und K und O … ONKO macht das Leben froh.“

Paul stutzte. „Professor … ich versteh’ nicht?“

„Alte Werbung“, murmelte Ophofen. „Hat sich irgendwie festgesetzt. Mein Hirn ist ein…“ Bei diesen Worten verlor der Professor das Bewusstsein.

Paul biss sich auf die Lippen. Was konnte er tun? Er nahm den Kopf seines Chefs zwischen beide Hände und schüttelte ihn vorsichtig. Das half. Ophofen kam wieder zu Bewusstsein. Er lächelte schwach.

„Wenn ich jetzt noch ein letztes Wort sagen dürfte … dann wäre es vermutlich Nonsens.“

Paul schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nein, Herr Professor, ich werde das alles genauestens aufschreiben. Ihr Vermächtnis.“

Ophofen blinzelte müde. „Das habe ich mir fast gedacht. Und irgendwann findet ein anderer Spinner diese Zeilen und interpretiert sie als tiefe Weisheit.“

Paul sah ihn bestürzt an. „Aber … sind es nicht tiefe Wahrheiten?“

Ophofen lächelte schmerzverzerrt, ein rasselnder Laut. Dann erneut Ohnmacht. Paul nahm seine Trinkflasche und schüttete die letzten Tropfen Wasser über das Gesicht des Sterbenden.

„Manche vielleicht. Andere sind einfach nur … Quatsch.“ Der Professor war erneut zurückgekommen. Ein letztes Mal. „ Aber das ist das Schöne an letzten Worten. Man kann und muss sie nicht weiter erklären.“

Mit diesem Satz schloss Ophofen für immer die Augen. Die Baumriesen schienen von allen Seiten auf ihn einzustürzen, Sonnenstrahlen tanzten zwischen den Schlingpflanzen, Lianen und dem erdrückenden Grün des Dschungels hin und her, ein verwirrendes Schauspiel aus Licht und Schatten. Und während das Leben immer weiter aus ihm wich, stellte er sich vor, wie Anthropologen in ferner Zukunft seine Worte zu entziffern versuchten, seine Sprüche deuteten, sich an den absurden Werbeslogans den Kopf zerbrechen würden. Vielleicht, dachte er mit allerletzter Kraft, vielleicht ist das die wahre Unsterblichkeit.



(3) Das ist jetzt wirklich blöd!

Jana war erst 23 Jahre alt, als der Tod sie überrumpelte wie ein Tsunami. Dabei hatte sie noch so viel vor. Wollte nach Japan reisen, endlich Klavierspielen lernen, und vor allem, verdammt noch mal, dieses Wochenende ihren 24. Geburtstag feiern. Sie hatte alles geplant – ihre beste Freundin Marie wollte Kuchen backen, die ganze Clique würde da sein. Jana hatte sogar ein neues Kleid gekauft mit einem wunderbaren Schnitt, den sie noch nie getragen hatte.

Doch jetzt lag sie hier. Auf dem kalten Asphalt. Und es war vorbei.

Sie wusste nicht genau, wie es passiert war. Ein Moment der Unachtsamkeit, ein Auto, das sie übersehen hatte – oder war es umgekehrt? Ihr Kopf schien benommen, ihr Körper fremd. Stimmen drangen wie durch Watte zu ihr durch, aber sie waren nicht mehr von Bedeutung. Was wichtig war, war der eine, absurde Gedanke, der sich in ihr festgesetzt hatte und den sie radebrechend vor sich hin stotterte: „Das ist jetzt wirklich blöd!“

Sie wollte lachen. Das war doch kein angemessener letzter Satz! Aber das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Ihr Brustkorb war ganz und gar von einem stechenden Schmerz erfüllt.

Von so vielen Menschen sind tiefgründige letzte Sätze überliefert, dachte sie. Große Dichter hinterließen Worte, die für die Ewigkeit bestimmt waren. Und Jana hatte so viele Bücher gelesen, Filme gesehen, Videos gestreamt, in denen letzte Worte voller Weisheit steckten. Nur fiel ihr jetzt kein einziges mehr ein. Und sie? Sollte sie aus dem Leben scheiden mit einem Satz, den man auch sagen konnte, wenn man den Bus verpasst hat?

Vielleicht, dachte sie, ist das genau das Problem mit dem Tod. Er ist kein großes, dramatisches Finale. Kein epischer Monolog. Er ist einfach nur ein abruptes Ende mitten im Satz.

Sie wollte Marie noch sagen, dass sie sie liebte. Ihren Eltern, dass sie sich keine Vorwürfe machen brauchten. Aber die Worte formten sich nicht mehr. Ihr letzter Satz war schon gesagt.

Sie spürte eine seltsame, namenlose Leichtigkeit in sich aufsteigen, als sie gewahr wurde, dass das Leben aus ihr wich. Und als ein grelles Licht sie sanft umfing, dachte sie mit einem Anflug von Ironie: Vielleicht wird ja irgendwann dieser Satz auf meinem Grabstein stehen.



(4) Die letzte Liste

Aljoscha war zeitlebens überzeugt: Es gab keine höhere Macht, nur die kalte Undurchschaubarkeit des Schicksals. Als Agnostiker hatte er sich immer von Religionsmythen und anderen Glaubensritualen distanziert – und dennoch hatte er in den letzten Monaten begonnen, eine Liste mit feierlichen Abschiedsformeln anzulegen. Ein Arsenal an pointierten, humorvollen und tiefsinnigen Sätzen, mit denen er seine letzten Atemzüge würdevoll gestalten wollte.

In dem sterilen Krankenhauszimmer, in dem er jetzt lag, von monoton summenden Apparaten und nervtötend piepsenden Geräten umgeben, spürte Aljoscha, wie seine Kräfte allmählich schwanden. Neben seinem Bett stand Clara, seine langjährige Freundin und Weggefährtin, die seine akribischen Vorbereitungen kannte und ihn seit jeher begleitet hatte. Ihre Augen waren feucht vor Sorge, aber auch geweitet von einer unerklärlichen Neugier.

„Aljoscha, du hast dir immer so viele Worte zurechtgelegt“, flüsterte sie, während sie seine Hand drückte. „Was sagst du jetzt?“

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte plötzlich Stille. Erdrückend und schwer. Waren die Geräte ausgefallen? Aljoscha wirkte geistesabwesend. War er überhaupt noch da? Früher hatte er seine Liste immer wieder überarbeitet – freche, scharfsinnige Sprüche zusammengetragen, die sein Leben prägten – doch im entscheidenden Moment schien ihn der Geist dieser Sätze zu verlassen. Stattdessen drängten sich plötzlich die letzten Worte Jesu am Kreuz in seinen Sinn: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Clara starrte ihn ungläubig an. Hatte Aljoscha das wirklich gesagt?„Aljoscha... war das...?“ begann sie zögerlich, während sie in seinen müden Augen suchte, ob sich ein Funken von Glauben finden ließ.

Mit einem schmalen Lächeln, das zugleich spöttisch und traurig wirkte, antwortete er: „Das war es. Ich weiß, ich habe immer behauptet, an nichts zu glauben. Aber manchmal, wenn man so nah am Ende ist, fällt selbst der hartnäckigste Zweifler vom Unglauben ab.“

Claras Stirn legte sich in Falten. „Meinst du, du hast... einen Funken gefunden? Oder war es nur Ironie – ein letzter Scherz der Natur?“

Aljoscha zögerte, während die letzten Atemzüge seinen gequälten Brustkorb auf und ab bewegten. „Vielleicht ist es beides“, murmelte er. „Vielleicht ist es der Versuch, noch einmal alle Türen aufzustoßen, die ich im Leben fest verschlossen hielt. Oder es ist einfach nur Zufall – Begriffsfetzen, die mir gerade jetzt über den Weg gelaufen sind.“

Clara drückte seine Hand fester. „Ich will nicht recht daran glauben, dass du plötzlich deine ganze Überzeugung über Bord geworfen hast. Oder doch? Aber auch wenn du nicht gläubig geworden bist, so zeigst du mir doch, dass es im Angesicht des Endes immer noch Raum gibt für Zweifel, Ironie und vielleicht sogar ein bisschen Hoffnung.“

Ein schwaches Lächeln huschte über Aljoschas Gesicht. „Clara, meine Liebste. Die Liste war nie dafür gedacht, endgültige Wahrheiten zu verkünden. Sie war ein Versuch, das Unerklärliche mit einem Augenzwinkern zu nehmen. Und wenn ich jetzt, am Rande des Unbekannten, doch noch Kraft finde, bleibt mir nur zu sagen: Vielleicht gibt es ja doch mehr, als ich all die Jahre zu leugnen versuchte.“

Mit diesen Worten glitt Aljoscha stumm hinüber in die Dunkelheit – während Clara, mit einer Mischung aus Trauer, Verwunderung und einem Hauch von Trost noch lange bei ihm verweilte. Ihre Blicke kreuzten sich ein letztes Mal, in dem stillen Einvernehmen, dass die Geheimnisse des Lebens und des Glaubens nie ganz zu entschlüsseln sein würden.



(5) Im Wartezimmer

Der Nächste bitte… So fühlt es sich wahrscheinlich an, wenn man hereingerufen wird, ohne es zu wollen.

Ich werde jetzt hereingerufen oder vielmehr heraus. Heraus aus dem Leben. Und kann keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Habe einfach nur Scheißangst, verdammte Scheißangst. Daneben hat nichts anderes Platz. Was wird mit mir? Was kommt? Ist es einfach aus und vorbei? Ist der Weg zur Hölle mit Plüschkissen gepolstert? Oder mit Reißnägeln. Oder zum Teufel mit was? Diese verfluchte Angst, die alles zermalmt und verdrängt, zerstört und … Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schon gar nichts Produktives mehr denken. Weiß der Henker. Bin einfach nur Angst, von oben bis unten, von hinten bis vorn, durch und durch.

Falls ich je vorhatte, letzte Worte zu sprechen. Vergiss es. Das war eine fixe Idee. Schnee von gestern. Quatsch und Käse. Aus und Vorbei. Ist jetzt völlig schnurz... So was von shit-egal.

Sag mir lieber: Hab ich überhaupt etwas richtig gemacht in meinem Leben? Oder nur Scheiß gebaut? Du schweigst. Was will mir das sagen? Ja, ja, ich muss die Antwort schon selber finden. Klaro. Hilf Dir selbst, sonst… und so weiter. Aber auf dem Sterbebett? Gibt es da auch keine Hilfe? Hilft Dir da keiner? Jetzt lieg’ ich da wie ein zappelnder Käfer auf dem Rücken, kann mich nicht vom Fleck rühren und niemand, verdammt nochmal niemand hilft mir. Das gibt’s doch nicht. HILFE! HILFE! Ist da jemand?


Ich fürchte, das werden, das waren meine letzten Worte…


Kassandra stand auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Was für ein Scheißtraum, dachte sie, als sie sich unter die Dusche stellte und das Wasser abwechselnd auf heiß und kalt drehte. Erstmal aufwachen. Ein Kaffee oder zwei, ein Blick in die Zeitung und dann sofort an den Schreibtisch, um die Geschichten über Letzte Worte zu Papier zu bringen. Gestern wäre Abgabetermin gewesen.

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