Nicht nur für Kinder...
- Stefan J. Rümmele
- Feb 20
- 21 min read
Eine Kurzgeschichte über das Sonntagsgefühl

Mit Else und Trolli im Traumland
Die im Text verwendeten Fotos wurden durch die KI von Microsoft Bing Image creator erzeugt.
Die Geschichte entstand etwa Mitte der 1980er Jahre und wurde vor kurzem noch einmal von Annette und mir überarbeitet.
Hasbergen, im Februar 2024
Ich hab’ heute das Sonntagsgefühl, obwohl Montag ist. Morgen fängt nämlich die Schule an. Papa sagt immer, das Sonntagsgefühl sei Quatsch. Völlig überflüssig. Aber ich hab es doch! Meistens so ab Sonntag nachmittag, irgendwo im Bauch. Dann steigt so ein mulmiges Gefühl in mir hoch, unbeschreiblich - das Sonntagsgefühl eben. Ich hab es so genannt, weil es meistens sonntags kommt. Ob andere Kinder das auch haben? Keine Ahnung! Meine Freundin Ulla jedenfalls hat es nicht. Jetzt weiß ich sogar, wie sich das Sonntagsgefühl montags anfühlt: genauso blöd.
Unsere Weihnachtsferien waren wie immer zu kurz. Die meiste Zeit hab ich bei meinen Großeltern verbracht, weil Mama bald ein Baby bekommt. Es soll Alex oder Nina heißen. Mir wäre Alex zwar lieber. Aber dazu muss es ein Junge werden. Und wenn nicht? Dann ist Nina auch nicht schlecht. Ich kann’s kaum noch erwarten. Alle meine Freundinnen haben schon Geschwister. Einmal hab ich mich bei Mama beschwert deswegen. Da hat sie mich nur groß angeschaut und gestöhnt: „Ja, ja mein Schatz, wir üben schon wie die Weltmeister!“
Das sollte wohl eine Entschuldigung sein. Die stellen sich vielleicht an. Aber Hauptsache, dass es jetzt endlich geklappt hat. Mama sieht aus, als hätte sie ein Fass verschluckt. Ich glaub, es geht ihr auch entsprechend. Immer, wenn ich ewas von ihr will, legt sie ihre Stirn in Falten und stöhnt herum. Sie tut mir richtig leid mit ihrem Fass. Zum Glück ist es bald vorbei, sagt Papa. Nur blöd, dass ich dann wahrscheinlich grad in der Schule hocke und Mathe oder Reli machen muss, wenn das Baby kommt. Ich würde so gern dabeisein. Würde mich brennend interessieren, wie so ein Baby guckt, wenn es zur Welt kommt. Ulla sagt, Babies lächeln, duften zart und sehen aus wie rosa Ferkelchen. Aber das glaubt sie in Wirklichkeit selber nicht. Oder sollte sie als Klassenbeste nicht wissen, dass wir vom Affen abstammen. Egal, ich hab jedenfalls beschlossen, unseren Lehrer zu fragen. Unser Lehrer ist ziemlich dick, und immer wenn er sich ärgert, läuft er so rot an wie eine Tomate. Das hat ihm seinen Spitznamen eingebracht. Sonst ist er ganz okay. Meine Frage hat er aber auch nicht so richtig beantworten können. „Hm, Gabriele“, hat er gesagt, sich zur Seite gedreht und sich am Kopf gekratzt. „Du stellst vielleicht Fragen!“ Eigentlich hätte er ja nur zugeben brauchen, dass er’s auch nicht weiß. Dann hätte ich einfach den Religionslehrer gefragt. Der ist doch angeblich für alles zuständig. Aber unser Lehrer hat mir versprochen, sich bei der Entbindungsanstalt zu erkundigen, wie Babies gucken, wenn sie zur Welt kommen. Dann hat er’s doch vergessen. Inzwischen ist Alex längst zur Welt gekommen, und niemand hat daran gedacht, ihn bei seinem ersten Blick zu fotografieren. Auf die Erwachsenen ist eben kein Verlass. Nicht einmal auf Mama. Die hab ich noch kurz vor der Klinik daran erinnert: „Denk’ an das Bild“, hab ich gesagt. Aber vergebens. Wenigstens gibt’s ein Foto von Alex als frischgebackenes, ziemlich neues Baby. Das ist besser als nichts. Auf dem Foto schaut er einigermaßen überrascht aus seinem großen Kissen. Alles andere hätte mich auch gewundert...

Hab ich euch eigentlich schon verraten, wie ich heiße? Nein? Dann wird’s höchste Zeit. Ich heiße natürlich Möps und nur offiziell Gabriele. Dabei bin ich kein bisschen dick. Kann sein, dass ich ganz früher mal dick war. Aber das ist ewig her. Und weil sie mich eben nicht Mops nennen wollten, sagten sie einfach Möps. Klingt irgendwie netter.
Gabriele nennen mich nur die Großen. Mit Ausnahme von Mama. Die sagt Gabi, Mausi oder Schatz zu mir. Ich finde das machmal ganz schön unpassend. Und Papa? Der wechselt noch häufiger. Wenn er Gabriele sagt, ist er sauer auf mich. Dann ist es besser zu verschwinden. Meistens sagt er Spatz oder Liebling. So nennt er Mama auch manchmal, und wir wissen dann nicht, wen er damit meint. Ab und zu sagt er auch Mädchen. Das hasse ich. Ich bin kein "Mädchen". Jedenfalls kein normales. Und ganz selten, wenn wir ganz tolle Freunde sind, dann sagt er Möps zu mir. Das ist super! Ich mag ihn so, wenn er Möps zu mir sagt.
Leider kommt das immer seltener vor. Neulich, als ich mit Dirk und Sven vom Schlittenfahren
heimgekommen bin und wirklich super gut gelaunt war, weil mein neuer Schlitten so klasse fährt, da steht Papa im Türrahmen und hält mir mein Deutschheft unter die Nase. „Was ist das denn?“, fragt er mit einer Stimme, als wolle er Granit zersägen. Ich hab ihn nur ganz kurz angeschaut und sofort gewusst, dass gleich ein Gewitter losbricht. Aber bevor ich mich in mein Zimmer verdrücken konnte, hat er mich am Schlawittchen erwischt und noch lauter gefaucht: „Ich hab dich was gefragt, Gabriele!“ Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen. Ich versuchte, ihm so gut wie möglich begreiflich zu machen, dass ein Fünfer im ungeübten Diktat absolut normal ist. „Sogar unsere Besten schreiben da einen Dreier“, hab ich mich eisern verteidigt und ganz unschuldig die Augen verrollt. Das hat ihn aber nicht beeindruckt. Er schaute mich wirklich sehr, sehr ernst an aus seinen dunklen Augen und entgegnete: „Gabriele, wenn du so weitermachst, dann kannst Du auf keinen Fall aufs Gymnasium. Schreib dir das hinter die Ohren!“ Blödes Gymnasium, dachte ich und rannte schnell in mein Zimmer. Zum Glück hat mich Papa dann in Ruhe gelassen.
Immer und immer wieder dieses bescheuerte Gymnasium. Alle reden sie davon. Nicht nur der Lehrer und die Eltern, nein, sogar unser Freund Gregor fing neulich damit an. Ich kann’s wirklich nicht mehr hören. Ob da überhaupt noch jemand hinwill in dieses oberdoofe G y m-n a s i u m?
Gut, Ulla, die ist eine Ausnahme. Die will ins Gymnasium. Bitteschön, die hat aber auch nur Einser und Zweier. Sven und Michael auch, glaub ich zumindest. Aber ich, nee, ich hab zwar erst drei Fünfer, aber das Gymnasium kann mir trotzdem gestohlen bleiben. Auch wenn ich angeblich phantasievolle Aufsätze schreibe. Da bringen mich keine zehn Pferde hin. Papa fängt immer wieder damit an. Ich hab ihm schon tausendmal gesagt, dass mich das nervt. Aber er ist total taub auf diesem Ohr. Jetzt hab ich ein so stechendes Gefühl im Hals, als müsste ich gleich losheulen. Ich will aber jetzt nicht heulen. Ich will nicht! So ein Mist. Wegen Schule heulen ist doof...

Als ich so in meiner Ecke hocke und vor mich hinstarre, da seh ich plötzlich, wie sich etwas ganz langsam in der anderen Zimmerecke bewegt. Zuerst trau ich meinen Augen nicht. Ich krabble ganz vorsichtig hin, um mich zu vergewissern und tatsächlich: Else, meine Lieblingspuppe winkt mir zu. Ich seh’s ganz deutlich. Fast wie im Traum, den ich gestern hatte. Else trägt einen langes, feinbesticktes Kleid und hat ganz glänzende Augen. Sie nimmt Trolli, meinen Teddy, an der Hand und führt ihn in eine Kapelle aus lauter Edelsteinen. Ein blauer Delphin springt vor ihnen hin und her, die Glocken läuten, und eine große Orgel spielt. Bello, Petzi, das irische Schäfchen, und Wenzel, mein superknuffeliger Plüschhund, begleiten das Brautpaar zum Altar. Else macht ein sehr feierliches Gesicht. Vorn am Altar steht Jürgen, mein Koala-Bär, der mit den Fußballschuhen. Er überreicht dem Brautpaar einen großen goldenen Schlüssel. Else nimmt den Schlüssel und schwebt davon. Hinter dem Altar ragt ein riesiges Tor auf. Else steckt ihren goldenen Schlüssel ins Schloss, sperrt das Tor auf und geht mit Trolli hindurch, ohne noch einmal zurück zu schauen. Ich wollte den beiden noch nachrufen, aber sie waren schon längst hinter der Kapelle verschwunden.
Schade, dass die beiden so schnell fortgehen mussten. Ich hätte sie gern noch bewundert und bestaunt. Und Mama hätte sie bestimmt zum Abendessen eingeladen und wir hätten gemeinsam gefeiert. Aber Mama hat ja nie Zeit. Wie soll ich zum Beispiel ausgerechnet Zweihundertvierundneunzig geteilt duch sieben rechnen können, wenn Alex nebenan schreit, Mama Küche putzt und die Spülmaschine rumpelt. Diese blöden Hausaufgaben. Schule geht ja noch, da hat man seine Freunde und die Pause und Sport. Aber Hausaufgaben sind das Letzte. Um drei Uhr bin ich mit Ulla zum Schlittschuhfahren verabredet und hab immer noch zwei Kästchen zu rechnen.
Jetzt klingelt auch noch das Telefon. „Gehst du hin, Schatz?“, flötet Mama wie ein Engelchen, obwohl sie doch genau weiß, dass ich in Eile bin. Also gut, ich geh. Könnte ja für mich sein. „Hallo, hier Möps, wer spricht bitte?“ Irgendein Versicherungsonkel meldet sich am anderen Ende. Will Mama sprechen. Könnte doch auch später anrufen, dieser Heini. Alex hat sich zum Glück etwas beruhigt in der Zwischenzeit, aber Mama telefoniert erstmal. Zweihundertvierundneunzig geteilt durch sieben - das geht doch überhaupt nicht. Spinnt die Tomate jetzt, uns solche Aufgaben zu stellen. „Maaaaama“ schrei ich durch die ganze Küche und vergess dabei total, dass Alex auch noch da ist. Schon heult der los wie eine Alarmsirene, zehnmal so laut wie vorher. Also, so ein Brüderchen ist ja gut und schön, aber doch nicht, wenn es bei den Hausaufgaben dauernd schreit. Und wenn es die Hosen ständig voll hat. Und auch nicht, wenn es Mama immerzu in Beschlag nimmt. Aber was bleibt mir übrig, als zu ihm rüberzugehen und ihn zu beruhigen. Ich hab ihm aber klipp und klar meine Meinung gesagt. „Hör zu“, hab ich geschimpft und ihn ein wenig dabei gerüttelt, „wenn du nicht augenblicklich still bist, musst du meine Hausaufgaben machen, capito!“ Das zog. Alex war tatsächlich für einen Moment still und guckte mich an wie ein Honigkuchenpferd. Kurz darauf legte Alex richtig los. Ich lief aus dem Zimmer und hielt mir die Ohren zu. Mama kam mir entgegen und wetterte: „Bist du noch bei Trost, das Kind so aufzuschrecken!“ Das war richtig ungerecht, denn Alex hatte ja schließlich angefangen. Mama war ziemlich lang damit beschäftigt, mein liebes Brüderchen „einzuschläfern“, und ich saß wieder allein da und brütete über den Matheaufgaben. Endlich hatte ich’s doch geschafft. „Fertig, ich geh jetzt“, rief ich. Schon kam Mama aus dem Zimmer von Alex geschlichen und legte den Finger auf den Mund: „ Psst, psst, Gabi, der Kleine schläft doch endlich.“
„Also, ich geh jetzt“, wiederholte ich leiser. „Nu mal langsam“, widersprach Mama, „zeig erst mal her“. Ich holte mein Matheheft aus der Büchertasche, legte es vor sie hin und sagte stolz: „Hier, da schaust du, was?“ Mama sagte gar nichts. Sie vertiefte sich in die Rechnungen. Aber ihr Gesicht verfinsterte sich von Aufgabe zu Aufgabe. Ich ahnte Schlimmes. Da fing sie auch schon an: „Das ist ja alles falsch, Gabriele, keine Aufgabe richtig. Was hast du denn da zusammengerechnet!“ Ich hatte eine solche Wut im Bauch, weil es schon zehn nach drei war und ich doch mit Ulla verabredet war. „Hier setz dich hin“, befahl Mama in einem entsetzlich gereizten Ton, „das wird alles nochmal gerechnet.“
„Neiiiin!“, schrie ich zurück, „ich hab keine Lust mehr, diese bescheuerten Rechnungen.“ Mama stemmte ihre Arme seitlich in die Hüfte und fuhr mich an: „Was fällt dir eigentlich ein, du ungezogenes Luder, so mit mir zu reden.“ Vor lauter Zorn nahm ich mein Federmäppchen und schleuderte es in die Ecke. Filzer, Füller, Radiergummi und der Spitzer flogen durch die Luft.
Das war der aller-, allerschlimmste Streit, den ich je mit Mama hatte. Es war fürchterlich. Schließlich bekam ich Hausarrest und musste die Rechnungen zur Strafe zweimal abschreiben. Den ganzen Tag war ich so stinkwütend, dass ich am liebsten die Tapeten von den Wänden gekratzt hätte. Am nächsten Morgen haben wir uns aber wieder versöhnt und ich hab in der Schule sogar ein Fleißbildchen für die Rechnungen bekommen.
Heute bin ich glücklich und ein bisschen traurig auch. Traurig wegen meiner Eltern. Ich glaub, die haben mein Zwischenzeugnis noch nicht verkraftet. Vor allem den Vierer in Reli und den Fünfer in Mathe. Mama hat schon mit unserem Lehrer gesprochen deswegen. Sie sagt, sie muss mit mir zum Psychologen, wenn’s nicht besser wird. Mir ist das eigentlich gleich. Aber Psychologe klingt irgendwie komisch, so ähnlich wie Gymnasium, und das kann nichts Gutes bedeuten. Es stimmt ja, dass es nicht so weitergehen kann. Gestern hab ich mich schon wieder mit Mama verkracht wegen der Hausaufgaben. Mir stinkt das selber langsam. Aber was soll ich machen? Ich will ja schließlich nicht aufs Gymnasium, sondern Papa will, dass ich will. Ganz schön kompliziert.
Zum Glück sind wir heute nachmittag verabredet, Ulla und ich. Wir wollen den alten Gregor besuchen. Der wohnt nebenan in einem kleinen Häuschen am Hang. Außenherum ist ein riesengroßer Garten mit wunderschönen Obstbäumen drin. Der alte Gregor ist unser Freund. Er hat einen weißen Bart und raucht eine lange Pfeife. Auf seiner Holzterrasse kann man stundenlang sitzen, Limo trinken, Kekse essen und in die Sonne blinzeln. Leider ist es dafür aber noch zu kalt. Ich möchte später auch einmal in so einem Häuschen wohnen, nicht in einem gräßlichen Betonklotz wie jetzt.

Gregor geht es heute auch nicht besonders. Ihn plagt das Rheuma. Doch er lächelt uns an, als wir kommen. Für Ulla und mich hat er natürlich Limo und Kekse hingestellt. Wir greifen kräftig zu. Bei Gregor schmeckt es besonders gut. Er hat immer Zeit für uns und möchte alles wissen, was wir erlebt haben. Ulla erzählt ihm, wie wir neulich die Tomate drangekriegt haben.
„Also, das war so“, fängt Ulla an, und Gregor lehnt sich ganz entspannt in seinem Korbsessel zurück, als hätte er nie Rheuma gehabt. „Unsere Tomate, weißt du, die dreht manchmal ziemlich durch. Dann brüllt sie wild im Klassenzimmer rum. Neulich als sie wiedermal loslegte, hab ich das einfach mit dem Kassettenrekorder von meinem großen Bruder aufgenommen.
„So hört sich das an!“, sagte Ulla. „Naja,“ meinte Gregor, „da war euer Lehrer wirklich etwas außer sich. Das kann schon mal vorkommen. Hauptsache, er ist nicht immer so.“
„Zum Glück nicht“, konnte ich Gregor beruhigen.
Wir sind an diesem Tag noch lang zusammengesessen und haben uns Geschichten erzählt. Als Gregor von meinem schlechten Zeugnis erfahren hat, riet er mir, einfach selbst ein Zeugnis aufzusetzen. Und zwar mit Zensuren über meine Eltern.
Daheim hab ich mich gleich drangemacht und hab die Zeugnisse auf zwei großen weißen Blättern geschrieben. Einser und Zweier hab ich keine verteilt. Dafür viele Dreier für Betragen und Hausaufgabenbetreuung. Papa hat sogar eine Fünf bekommen, weil er immer wieder mit seinem Gymnasium anfängt. Für seine Gute-Nacht-Küsse hätte ich ihm aber fast eine Zwei gegeben. Aber ich wollte ihn nicht zu sehr loben. Schließlich bildet er sich auf seine Küsse auch noch etwas ein. Dann kam die feierliche Zeugnisübergabe. Gleich nach dem Abendessen hab ich ihnen die „Käszettel mit Geisterschrift“ überreicht. Alex war grade mal für fünf Minuten still. Wie Papa gelacht hat, als er das Zeugnis gesehen hat. Nicht einmal der Fünfer hat ihn gestört. Und Mama hat sich erst gefreut. Sie hatte ja auch das bessere Zeugnis. Ich war richtig platt. Gregor hat eben immer die besten Ideen.
Endlich weiß ich, wie es hinter dem Tor aussieht, durch das Else und Trolli in ihrer Hochzeitsnacht verschwunden sind. Hinter dem Tor liegt nämlich das Traumland. Es ist nicht nur traumhaft schön und groß, das Land, in dem Else und Trolli jetzt leben, sondern es geht dort auch alles blitzschnell in Erfüllung, was man sich wünscht. Am Anfang war ich so begeistert davon, dass ich gar nicht wusste, was ich mir wünschen soll. Else und Trolli waren so lieb zu mir. Sie sind mit mir spazieren gegangen und haben mir alles genau erklärt. Wunderschöne Pflanzen haben sie mir gezeigt, herrliche Wiesen mit ganz ausgefallenen Düften, prächtigen Schmetterlingen und Vögeln. Und einen geheimnisvollen See mit blauem Wasser, so blau wie der Augusthimmel. Als ich den See vor mir liegen sah, bekam ich eine solche Lust, darin zu baden, dass ich mich gleich auszog und hineinsprang. Das Wasser fühlte sich ganz zartseiden an und war angenehm lauwarm. Ich schwamm ein Stück in den See hinein und weil ich Durst bekam, trank ich von dem perlig-blauen kostbaren Wasser. Noch während ich trank, wurde mir ganz schwindlig im Kopf. Ich fühlte mich leicht wie eine Feder und ließ mich bewegungslos von den Wellen tragen.
Am nächsten Morgen machte ich eine entsetzliche Entdeckung: Mein ganzes Bett war klitschnass und ich selber auch. Wahrscheinlich hab ich alles vollgepinkelt. Oder der Traumlandsee ist ausgelaufen? Auf jeden Fall muss das Bettzeug und mein Schlafanzug so schnell wie möglich weg, damit Mama nichts merkt. Zuerst renn ich in hellster Aufregung ins Bad, werfe meine Sachen in die Wäsche. Dann zurück ins Zimmer. Das Bettzeug, es muffelt. Nur runter von der Matratze und weg. Da kommt Mama. „Mama?!“ Ich guck sie ganz entgeistert an. Sie guckt ganz entsetzt zurück. Ich sage nichts, falle ihr um den Hals und heule los wie ein Schlosshund. Mama hat sofort verstanden. Sie will mich auch beruhigen, aber irgendwie wirkt sie noch verstörter als ich. Am anderen Tag sind wir zum Arzt gegangen. Der hat sich unser Verschen angehört, hat mich ganz besorgt angeschaut und dann ausführlich untersucht. Schließlich sagte er: „Gabriele, das ist halb so schlimm. Ich verschreib’ Dir ein paar Tabletten und dann wird das schon wieder.“
Der Apotheker hat uns die bittersten Pillen gegeben, die ich jemals geschluckt habe. Einfach ekelhaft. Jedesmal wenn ich die Tabletten hinuntergewürgt hatte, hat es mir halb den Magen umgedreht. Aber Mama wacht wie ein Schießhund darüber, dass ich die Prozedur auch gewissenhaft durchführe. Zuerst wollte ich noch beschummeln und das Zeug in einem unbeobachteten Moment ausspucken. Aber inzwischen schluck ich die Pillen lieber und spül mir den Mund danach aus.
Neben dem Einahmeplan hängt seit gestern noch eine andere Liste. Darauf hat Papa meine Noten eingetragen. Die Noten vom Diktat, von den Matheproben und die HSK-Noten. Das hat mich wahnsinnig geärgert. Ich mach jetzt erst recht ins Bett. Nein! Das stimmt natürlich nicht. Am Ende fangen sie noch an und wickeln mich wie den Alex. Obwohl das ja gar nicht so schlecht wäre. Diesen Babies geht’s doch wirklich unheimlich gut. Der Alex darf alles, naja so ziemlich alles und kriegt praktisch nie Schimpfe dafür. Das sollte mir auch mal passieren. Ich würde Papa sofort verbieten vom Gymnasium zu faseln und Mama würde ich die üblen Pillen auf der Stelle ausreden. Aber im Moment muss ich erstmal froh sein, dass Ulla und die anderen noch nicht Wind von der Sache bekommen haben. Da würd’ ich mich ganz schön schämen, wenn die das wüsste mit dem Ins-Bettmachen. Mama hat mir versprochen, keiner Menschenseele davon zu erzählen. Und die hält dicht.
Heute ist so tolles Wetter draußen und ich hab gar keine Lust rauszugehen. Sven und Ulla wollten mich zum Fangenspielen abholen. Aber ich hab sie wieder weggeschickt. Ich hatte Angst, sie könnten was merken und hab lieber mit Else und Trolli Traumland gespielt. Danach war ich traurig, dass ich nicht mit ihnen rausgegangen bin. Das ist in letzter Zeit eigentlich oft so. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will. Ich hab zu nichts mehr richtig Lust. Nicht einmal den alten Gregor mag ich mehr besuchen. Und mein Lieblingsessen Spaghetti ekelt mich spätestens nach dem dritten Bissen an. Im Turnen hab ich auch keine Kraft mehr. Wenn ich so weitermache, krieg ich wahrscheinlich nicht mal mehr `nen Zweier im Zeugnis. Das ist schlimm. Es wurmt mich entsetzlich. Aber ich kann’s nicht ändern..
Sogar dem Papa ist letzthin aufgefallen, dass es mir nicht gutgeht. Erst hat er wieder seine Nachrichten geschaut und sich fürchterlich über die Politiker aufgeregt, sich ein zweites Bier eingeschenkt und mich in den Arm genommen und fest gedrückt. Erst hab ich ihn lange angeschaut und überlegt, was wohl mit ihm ist. Gar kein Fußball heute abend oder sonstwas. Papa scheint tatsächlich zu merken, dass er eine zehnjährige Tochter hat, der es verdammt dreckig geht. Zuerst hab ich ihm gesagt, dass mich seine Nachrichtensendungen irrsinnig aufregen. Überall Krieg und Streit. „Soll ich vielleicht deswegen aufs Gymnasium gehen“, hab ich gesagt, „damit ich später kräftig mitschimpfen kann? Sowas will ich nicht lernen.“
„Nein, so ist das nicht“, meint Papa und lacht. Es ist wiedermal ganz anders. „Ich will doch nur, dass du später nicht so schuften musst wie ich“, fährt er fort und bekommt ganz glasige Augen. „Schau hier!“ Er hält mir seine zerfurchten Hände vor die Nase und erzählt mit zu jedem Ritzchen, zu jeder Schwiele eine Geschichte. Als er fertig ist, grinst er mich an, nimmt meine Hände, hält sie hoch und sagt: „Und du hast so schöne Hände, Möps. Die sollen doch so bleiben, oder?“
Hat er wirklich Möps gesagt? Seit weiß Gott wie lang war ich nur seine Gabriele. Und jetzt plötzlich Möps. Papa hat wohl Gehaltserhöhung bekommen. „Du Papi“, sag ich ganz schüchtern: „Sag nochmal Möps, bitte!“ Prompt erwidert er: „Möps! Wieso?“
„Ich wollte nur wissen, ob du’s auch wirklich noch kannst.“
„Na klar, was dachtest du denn“, entgegnet er ganz freundlich und drückt mich nochmal. Das ist ja toll, denk ich. Und das alles nach der normalsten Tagesschau der Welt. Jetzt will ich’s aber wissen.
„Du Papi“, fang ich wieder an, „wir wollen doch Freunde bleiben, oder?“
„Natürlich, mein Spatz“, antwortet er und schaut mich plötzlich wieder ganz geschäftsmäßig an. Das hat mich gleich wieder verunsichert, dieser Blick. Ich hab aber doch noch herausgebracht, was ich sagen wollte. Nämlich, dass die Notenliste wieder verschwinden muss, wenn wir wirklich Freunde bleiben wollen. Und das hat Papa sogar eingesehen. Ganz ohne Widerrede. Ich war ganz perplex. Als ich um neun Uhr ins Bett gegangen bin, war die Liste schon weg - wie weggezaubert. Papa ist ab und zu einfach spitze!
An diesem Abend hab ich ganz ohne Angst einschlafen können. Dann hab ich wieder von Else geträumt. Es war leider kein schöner Traum, weil Else und Trolli dauernd gestritten haben. Else hat Trolli Vorwürfe gemacht wegen des Traumlandsees. Sie fand, sie hätten mich nicht allein schwimmen lassen dürfen. Else war so streng zu Trolli. Mir tat das richtig weh. Trolli wackelte nur unschuldig mit seinem dicken Teddyköpfchen. Ich wollte Else besänftigen, aber sie ließ sich nicht beirren. Richtig zickig war sie. Fängt Else jetzt auch noch an durchzudrehen, dachte ich im Traum. Und dann hab ich ihr eine gescheuert, die sich gewaschen hat. Ihre Zöpfe flogen ihr nur so um die Ohren. Endlich war sie still und ich konnte wieder im See baden.
Nun hat auch Mama endlich eingesehen, dass die Tabletten nicht helfen. Ich mach halt immer noch ins Bett und in der Schule, naja, Mama meint, es sei ein Skandal. In den letzten Proben nur Vierer und Fünfer. Papa sagt schon lange nichts mehr vom Gymnasium. Er hat’s aufgegeben, glaub ich. Zum Glück. Hat ja lange genug gedauert. Aber durchfallen will ich trotzdem nicht. Das könnt ihr mir glauben. Das wäre das Letzte. Und so lern ich seit einiger Zeit eigentlich wieder mehr, obwohl mich das ziemlich anstrengt. Vor allem weil ich immer noch so schlecht in der Schule bin. Das gibt’s doch nicht? Ich lern und lern - und trotzdem hab ich lauter Fünfer. Irgendwie läuft alles schief zur Zeit. Ich kann niemanden mehr sehen. Am allerwenigsten die Tomate. Und ausgerechnet jetzt will Mama mit mir zum Psychologen.
Als wir in die Beratungsstelle kommen, bin ich ganz schön überrascht. Es sieht gar nicht aus wie beim Doktor, sondern fast wie in einem Kinderzimmer: Spielsachen, so ne gemütliche Sitzecke und bunte Polster überall, richtig gemütlich. Und der Psychologe ist gar kein Mann, sondern eine ziemlich junge Frau, die mich noch dazu richtig freundlich anlächelt. Antennen hat sie auch keine am Kopf oder bunte Lämpchen am Bauch. Daran hab ich das erste Mal gedacht, als ich Psychologe hörte. Die junge Frau ist anscheinend ganz in Ordnung. Kristina heißt sie. Kristina nochwie, aber ich darf sie mit Vornamen ansprechen. Erstmal will sie wissen, warum wir bei ihr sind. Ich trau mich erst nicht recht - und dann, als ich endlich loslegen will, unterbricht mich Mama dauernd. Das hat Kristina aber gleich zu Mama gesagt, dass sie das nicht darf. Toll, dass mal jemand zu mir hält. Also hab ich ihr das mit dem ins Bettmachen erzählt und das mit den schlechten Noten auch. Ich hab mich fast nicht geschämt dabei, weil mich Kristina immer wieder angelächelt hat. Das hat mir Mut gemacht. Dann hab ich gleich in der Puppenecke spielen dürfen und Kristina hat sich Notizen gemacht und sich noch mit Mama unterhalten.
Komisch, seit ich die Pillen nicht mehr nehmen muss, geht’s mir besser. Einmal in der Woche besuch ich Kristina jetzt. Wir spielen dann meistens etwas oder ich male Bilder. Ich hab ihr auch von Else und Trolli erzählt. Und von meinen Erlebnissen im Traumland. Da hat Kristina ganz lange Ohren bekommen. Alles hab ich ihr ganz genau schildern müssen. Sogar meinen jüngsten Traum. Und der ging so: Else hat mich zu einem Rundflug über unser Traumland eingeladen. Trolli stellte mir seinen Freund Zappa vor. Zappa ist eine große, kluge Silbermöwe. Sie hat uns auf ihren Rücken genommen und ist in die Lüfte gestiegen. Es war phantastisch. Unter uns lagen die herrlichen Wiesen, die mächtigen Bäume und mein himmelblauer Traumlandsee. Wie klein er von hier oben war! Wir glitten durch die milden Sommerlüfte und ich hatte zum ersten Mal überhaupt keine Lust, im See zu baden. Wir flogen immer weiter und weiter in Gefilde, die ich noch nie gesehen hatte. Nach einer Weile kamen wir an ein riesiges Gebirge. Schon von weitem erkannte ich das Gipfelkreuz des höchsten Berges. Als wir den Gipfel erreicht hatten, kletterten wir von Zappas Schwingen herab.
Und nun geschah etwas Seltsames: Das Gipfelkreuz versank vor unseren Augen in der Tiefe des Berges, und vor uns tat sich ein gewaltiger Schlund auf. Ich klammerte mich vor Schreck fest an Else. Aus dem Abgrund klangen fremde Gesänge herauf, und grelles Licht schlug uns entgegen. Else legte ihre kalte Puppenhand auf meine Stirn und sagte: „Komm, hab keine Angst, in diesem Berg wohnt unser König. Er wird uns empfangen.“ Langsam gingen wir auf den Abgrund zu. Immer greller und blendender wurde das Licht. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, um meine Augen zu schützen. Für einen kurzen Moment muss ich dabei unachtsam gewesen sein: Ich rutschte auf dem glatten Untergrund aus und fiel hin. Den König hab ich nicht gesehen.
„Das macht nichts“, sagte Kristina gleich, als ich aufgehört hatte zu erzählen. „Du kannst es das nächste Mal versuchen, dann klappt es ganz bestimmt.“ Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, denn es war ja ein Traum. Und Träume lassen sich doch nicht einfach planen wie unser Urlaub. Aber ich hab ihr versprochen, das nächste Mal so zu spielen, als hätte ich den König gesehen. Von diesem Vorschlag war sie so begeistert, dass sie einen ganz seltsamen Laut von sich gab. Manchmal können Erwachsene schon wunderlich sein. Aber ich finde Kristina trotzdem in Ordnung. Sie hat auch schon mit Papa gesprochen und die Tomate besucht. Geholfen hat’s leider nichts. Immerhin: Mama hat sich gebessert. Sie nimmt sich jetzt richtig Zeit für mich bei den Hausaufgaben, auch wenn Alex brüllt. Dafür pass ich auch mal auf mein Brüderchen auf.
Leider hat Alex zur Zeit Durchfall. Sein Po ist so rot wie das Gesicht von der Tomate, wenn sie sich aufregt. Deshalb schreit er immerzu wie am Spieß. Mama ist schon richtig kaputt deswegen. Da hab ich Alex letzthin eine dircke Schicht Vaseline auf seinen Pavianhintern geschmiert und zur Kühlung noch eine Ladung Eis aus dem Kühlschrank draufgepackt. Das war wohl zu viel des Guten. Losgebrüllt hat er wie eine ganze Affenbande. Er ist eben ein schwieriger Fall: sehr laut und ganz schön anspruchsvoll. Dabei hat er doch keinerlei Schulprobleme. Aber vielleicht kann ich ja nach seinem Durchfall endlich mal richtig mit ihm spielen...
Nicht zu fassen, stellt euch vor, was heute passiert ist: Ich hab’s tatsächlich geschafft. Seit drei Nächten ist mein Bett trocken. Absolut trocken. Ich bin richtig stolz auf mich. Zur Feier des Tages hat Papa gleich eine Torte mitgebracht und wir haben ordentlich geschlemmt. Danach bin ich bester Laune zu Ulla spaziert und hab mit ihr über unsere Zukunft gesprochen. So richtig erwachsen. Sie wird ja jetzt bald ins Gymnasium gehen. Aber wir wollen trotzdem ganz dicke Freundinnen bleiben, großes Ehrenwort. Auch wenn ich die ganze Zeit auf der Hauptschule verbringe. Da waren wir uns einig. „Wenn ich erst Ärztin bin“, sagte Ulla, „verdien’ ich leicht so viel Geld, dass ich alles für dich bezahlen kann.“ Richtig lieb die Ulla. Jetzt muss ich erstmal die Klasse schaffen, dann sehen wir weiter.
Gegen Abend wollten wir noch den alten Gregor besuchen. Leider haben wir niemanden bei ihm angetroffen. Auf der Straße hat uns eine Nachbarin erzählt, dass der alte Gregor ins Krankenhaus gekommen sei wegen seiner Schmerzen. Mir ist sofort ein solcher Schrecken in die Glieder gefahren. Gleich am nächsten Tag haben wir uns wieder verabredet, um ihn im Krankenhaus zu besuchen. Gregor wollte ganz genau wissen, was wir erlebt haben, warum wir ihn so lange nicht besucht hätten, wie es in der Schule geht, und, und, und... Die Besuchszeit hätte gar nicht ausgereicht, um ihm alles zu erzählen. Diesmal redete ich fast ganz allein, weil Gregor so interessiert zuhörte, und Ulla die Krankenhausluft nicht zu bekommen schien. Also erzählte ich Gregor auch vom Traumland, von Else, von Trolli und von Kristina. Und da hatte Gregor wieder mal einen seiner besonderen Einfälle. Er schlug vor, ich solle doch mal in die Traumlandschule gehen und mich dort umgucken. Vielleicht würde ich dort leichter lernen und begreifen als jetzt. Im ersten Moment hielt ich den Vorschlag, obwohl er von Gregor kam, für totalen Quatsch. Schule und Traumland, fand ich, das passt doch nicht zusammen, so wenig wie Gregor und das Krankenhaus. Aber nach einer Weile fand ich den Vorschlag gar nicht mehr so dumm.
Daheim fragte ich Else nach dem Weg in die Traumlandschule. Aber Else blieb stumm wie ein Fisch. Aha, dachte ich erleichtert, es gibt also doch keine Schule dort. Weit gefehlt! Noch in derselben Nacht träumte ich davon.

Ich kam in ein Klassenzimmer das dem unseren zum Verwechseln ähnlich sah. Nur vorn über der Tafel hing nicht das Bild unserer Direktorin, sondern das vom Traumlandkönig. Der Lehrer hieß mit Spitznamen nicht Tomate, sondern Gurke, weil er immer grün anlief im Gesicht, wenn er sich ärgerte. Die Schülerinnen und Schüler hatten alle ganz komischen Namen. Sie hießen nicht Frank oder Sven und Ulla, sondern Dirgni, Znarf und Kinimod. Ich wusste gleich, wo mein Platz war, und setzte mich hin. Die Stunde begann. Der Lehrer erzählte uns die Geschichte von der feierlichen Gründung der Traumlandschule. Wie langweilig, dachte ich erst. Aber seine Sätze flogen uns wie bunte Luftballons entgegen. Und ich spürte, wie jedes seiner Worte etwas in mir zum Schwingen brachte. Die Geschichte war so spannend, dass ich keine Sekunde Zeit fand zum Schwätzen. Ich hätte dem Lehrer noch stundenlang zuhören können. Doch irgendwann kam Trolli rein und holte uns zum Sport ab. Er trug einen orangefarbenen Overall mit lila Querstreifen und die voll guten Turnschuhe von Nike. Heute war Bockspringen dran. Leicht wie eine Feder hob ich vom Sprungbrett ab, machte einen Salto und landete mit einem beachtlichen Klatsch auf dem Hinterteil.
Au backe! Meine KlassenkameradInnen bildeten rechts und links von der Turnmatte ein Spalier und applaudierten begeistert. Von hinten kam Trolli mit einem samtenen Kissen heran. Auf dem Kissen lag ein Lorbeerkranz. Trolli nahm ihn und setzte ihn mir auf den Kopf. Dann hat er mir gratuliert und mich in den Arm genommen. Die Kinder klatschten immer lauter. Sie pfiffen, schrien und trommelten vor lauter Begeisterung auf den Hallenboden.
Manchmal wenn ich ums Verplatzen nicht aufwachen will, fängt Mama extra neben meinem Bett mit dem Staubsaugen an. Das dröhnt dann so wie jetzt... „Aufstehen, Gabi, schon halb acht!“ Verflixt, wir schreiben ja heute unsere Matheprobe, fiel es mir siedendheiß ein und ich sauste wie ein geölter Blitz aus meinem Bett. Der Traumlandtraum machte mich ganz benommen. Ich torkelte ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Dann ging ich nochmal ins Kinderzimmer zurück, setzte mich hin und gab Trolli einen dicken Kuss. Fast sah es so aus, als würde er mir zuzwinkern.
Unsere Matheprobe war eigentlich ganz leicht. Die schweren Aufgaben hab ich nämlich einfach weggelassen. Mama hat zwar die Augen verrollt, aber sie hat erst recht Augen gemacht, als ich ihr erzählte, was mit den restlichen Aufgaben war: Die hab ich allesamt im Kopf gerechnet.
Das Ergebnis der Probe haben natürlich alle mit Spannung erwartet. Was meint ihr, was ich bekommen habe? Eine Drei minus! Die hab ich gefeiert wie eine Eins. Sogar die Tomate hat sich mitgefreut. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich alle freuen. Ein wahrer Freudentag war das. Dem alten Gregor hab ich von meinem Taschengeld Blumen gekauft. Er ist eben ein ganz besonderer Freund. Einfach spitze! Wenn er nur wieder gesund würde. Dann könnte ich nächste Woche mit meinen Eltern ganz unbesorgt in Urlaub fahren. Dort werde ich bestimmt ganz oft an ihn denken und mit Else und Trolli spazieren gehen. Und wenn ich noch ein paar Mal in der Traumlandschule war, werd’ ich vielleicht eines Tages eine richtig gute Schülerin. Wer weiß. Kristina meint jedenfalls, in mir steckt noch eine ganze Menge. Aber das habt ihr sicher schon längst mitgekriegt...
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